Minutengeschichte – Stolperfallen

Hoch erhobenen Hauptes stolzierte Elefantin Hilde über die Anlage.
Endlich war sie wieder gewürdigt worden und bekam die Aufmerksamkeit, die sie verdient hatte. Ein Autohersteller war mit ihr. Gestern waren die ersten Webebilder herausgekommen. Lange genug hatte sie darauf warten müssen, doch es hatte sich gelohnt.
Vor einem halben Jahr war der Vertrag geschlossen worden. Na ja, nicht direkt mit ihr, sondern mit dem Zoo, in dem sie lebte. Angeblich könne sie keine Verträge abschließen, weil sie ein Elefant sei. Ob es deshalb nicht mit ihrer Bewerbung als Torwart geklappt hatte?
Hilde schritt über die Anlage, damit jeder Besucher von ihr ein Foto machen und später erzählen konnte, er habe das Gesicht der Autofirma XYZ leibhaftig gesehen.
Auf einmal schien sich der Boden unter der Elefantin aufzutun. Als sie nach unten blickte, stand sie mit ihren beiden Vorderfüßen in einem Loch. Höchst unelegant sah das aus. Hoffentlich fotografierte sie jetzt niemand. Sie war ein Star und keine Lachnummer.
Sie vernahm ein Kichern. Ohne den dazugehörigen Elefanten zu sehen, wusstesie, wer es war.
„Darjeeling!“, schrie sie erbost. „Hat dir deine Mutter kein Benehmen beigebracht? Man lacht nicht über das Missgeschick anderer. Vor allem nicht, wenn man dafür verantwortlich ist. Du sollst keine Löcher buddeln, so tiefe schon gar nicht. Ich sehe aus, als würde ich ihm Stehen Handstand machen wollen.“
„Das mit dem Loch war Ingrid.“
„Willst du wieder die Schuld auf deine Schwester schieben?“
„Halbschwester, so viel Zeit muss sein.“
„Werd‘ bloß nicht frech“, herrschte Hilde den Jüngsten der Gruppe an. „Man steht für das gerade, was man angestellt hat.“
„Das war wirklich Ingrid“, beteuerte Darjeeling seine Unschuld.
Zu seiner Überraschung glaubte die Elefantin dem Stoßzahnpieker.
„Diese verrückte Nuss“, regte sie sich auf. „Immer hat man Ärger mit ihr. Wenigstens weiß sie, wo die Toilette ist. Da gibt es noch Hoffnung, dass nicht alles verloren ist.“
Mühsam quälte sich Hilde aus dem Loch. Da merkte sie, dass sie nicht mehr die Jüngste war. Dafür kam sie noch aus eigener Kraft heraus. Gisela, das alte Faltenmonster, hätte einen Kran benötigt.
„Ingrid!“, schrie Hilde ungehalten und wartete darauf, dass die junge Elefantenkuh ihrem Ruf Folge leistete.
Als nichts geschah, rief sie noch einmal: „Komm sofort hierher, sonst trete ich dir in den Hintern.“
Das ließ Ingrid endlich kommen.
„Was willst du denn? Gerade habe ich dem Gierschlund klargemacht, dass ich vor ihr nicht zurückstehen werde. Jetzt muss ich mir das wieder mühsam erkämpfen, weil du mich gerufen hast“, maulte die junge Elefantenkuh.
„Ich geb‘ dir gleich einen Tritt in den Hintern. Du bist wohl zu lange mit Darjeeling zusammen gewesen. Mir Widerworte zu geben, wo gibt es denn das? Was ich sage ist Gesetz.“
„Gisela hat das letzte Wort.“
„Nur bei wirklich wichtigen Entscheidungen, die die gesamte Herde betreffen. Ansonsten gilt mein Wort und nur meins. Verstanden?“
„Schon klar“, pflichtete Ingrid ihr bei und hoffte, so schneller zu ihrem Platz zurückkehren zu können.
„Merk’s dir, sonst gibt das einen Tritt in den Hintern.“
Darauf konnte die junge Elefantenkuh verzichten. Es reichte, wenn Darjeeling sie als Zielscheibe für seine Stoßzahnattacken benutzte.
„Warum hast du mich jetzt gerufen? Das ist eine hervorragende Futterquelle gewesen. Ich hätte ordentlich was abstauben können.“
„Beseitige erst einmal deine Stolperfallen. Wenn du nach Wasser graben willst, mach das in Afrika. Hier haben wir einen Teich.“
„Ich habe vor Jahren dort mal was vergraben. Wollte nachschauen, ob es noch da ist.“
„Und?“, wollte Hilde wissen.
„Was und?“
„Na, war noch da, was du verbuddelt hast?“
„Nö, alles weg“, erwiderte Ingrid enttäuscht.
„Wenn das deine Ködel waren, sind die längst verrottet. Die wirst du nie mehr wiederfinden.“
„Daran rieche ich nur. Die fasse ich bestimmt nicht an. Bin doch kein Babyfant mehr.“
„Hast du auch die richtige Stelle gefunden, wo du die Sachen vergraben hast?“
„Das war hier“, sagt die junge Elefantin im Brustton der Überzeugung. Sie sah sich um und sagte dann kleinlaut: „Ich bin mir sicher, dass es hier war.“
„Du hast es vergessen“, stellte Hilde fest und wunderte sich darüber überhaupt nicht. Ingrid vergaß gerne etwas, wenn es nichts mit der Nahrungsaufnahme zu tun hatte. „Was willst du jetzt tun?“
„Die ganze Anlage umgraben. Irgendwo wird das schon sein“, sagte die junge Elefantin entschlossen und die dicke Hilde merkte, dass sie ihre Untergebene nicht vom Gegenteil würde überzeugen können, egal wie viele Fußtritte sie ihr verpassen würde.
„Na, dann buddel weiter deine Löcher, aber nicht zu tief und vor allem schüttest du die Löcher wieder zu, wenn du nicht fündig geworden bist. Wir wollen doch nicht, dass einer unserer Betreuer vermisst wird, weil du ein Loch bis nach Amerika gegraben hast.“
Das interessierte Hilde zwar weniger, ob einer ihrer Betreuer in den Löchern verschwinden könnte, da es sich bei allen um keine Zwerge handelte, aber die Elefantin hatte keine Lust, noch einmal in einem Loch zu landen. Ein Werbestar wie sie durfte sich zu keiner Minute lächerlich machen.