#Adventskalender-Minutengeschichte – 18. Dezember: Nichts gesehen

Einen Adventskalender zum befüllen zu kaufen war einfach. Seine Familie zu bitten, dass sie etwas für einen kaufte, damit man jeden Tag eine Kleinigkeit bekam, war was anderes. Denn entweder funktionierte es nicht oder man bekam Sachen, die man gar nicht haben wollte. War ihr alles schon passiert.

Dieses Jahr hatte sie die optimale Lösung gefunden und sich selbst ein paar Kleinigkeiten gekauft und dazu noch ein paar Zettelchen mit motivierenden Sprüchen oder kleinen Aufgaben geschrieben. Die hatte sie ihrer Familie übergeben, die sie in die beigelegten Adventskalendertüten ganz nach ihrem Gutdünken packen sollten. So wusste sie zwar, was sie bekommen würde, aber nicht wann. Das war die eigentliche Überraschung.

Mira nahm voller Vorfreunde die Tüte für den heutigen Tag ab und schüttete den Inhalt auf dem Tisch aus. Den Lipgloss mit Kirschgeschmack würde sie nachher gleich ausprobieren, wenn sie in die Uni fuhr. Und was stand auf dem Zettel?

Sei mutig, biete jemandem deine Hilfe an.

Mit verkniffenen Zügen las sie noch einmal, was auf dem Zettelchen stand, aber die Worte änderten sich nicht.

Hilfe anbieten? Heute? Hatte sie keine Zeit. Die Uni ging bis zum frühen Abend und dann musste sie noch ein paar Stunden arbeiten. Ihre Mittagspause wollte sie dafür bestimmt nicht opfern.

Wieso musste gerade heute der Zettel drin sein? Wieso hatte sie ihn überhaupt geschrieben? Hätte der nicht am Sonntag in dem Tütchen drin sein können? Dann hätte sie ihren Eltern angeboten die Wohnung staubzusaugen. Das ging gar nicht. Ein anderer Zettel musste her, sofort!

„Stimmt was nicht, Mira? Gefällt dir der Lipgloss nicht mehr?“, fragte ihre Mutter besorgt.

„Nein, nein, alles in Ordnung. Der Lipgloss ist toll, aber der blöde Zettel. Das ist falsch, was da drauf steht.“

„Ich habe keinen neuen geschrieben. Vielleicht hat dein Bruder…“

„Das ist von mir, aber das passt mir heute nicht. Wieso habe ich das nur geschrieben?“, jammerte Mira.

„Lass sehen“, sagte ihre Mutter und nahm ihr den Zettel ab.

„Tja“, mehr hörte Mira ihre Mutter nicht sagen, sondern sah, wie diese den Zettel und den Lipgloss nahm und beides zurück in die Papiertüte packte.

„Was wird das? Ich will den Lipgloss gleich benutzen.“

„Das würde ich mir noch mal überlegen, wenn du die Aufgabe auf dem Zettel nicht erledigen willst. Dafür machst du einfach heute Abend die Tüte des Adventskalenders auf und tust so, als hättest du es heute Morgen vergessen. So entgehst du deiner Aufgabe und musst sie eben morgen erledigen oder du kochst heute Abend für uns. Das kannst du dir überlegen.“

Bloß nicht kochen, aber die Lösung gefiel Mira. Sie würde einfach heute Abend die Tüte noch einmal aufmachen. Das ihr das nicht selbst eingefallen war. Aber dann konnte sie den Lipgloss nicht benutzen. Na ja, morgen war auch noch ein Tag. Aber zwei Aufgaben würde sie morgen nicht erledigen. Vielleicht würde sie doch was kochen. Irgendwo lag bestimmt noch ein Beutel mit Spaghetti herum und Pesto stand im Kühlschrank. So würde sie das machen.

(Helen Hoffmann)

#Adventskalender-Minutengeschichte 18. Dezember: Plastik kommt mir nicht ins Haus

Wie konnte es nur Leute geben, die sich einen Plastikbaum ins Haus stellten? Das Ding hatte nicht nur keine Ähnlichkeit mit einer normalen Tanne, sondern sah auch noch potthässlich aus. Halt wie Plastik.

Zwar waren die Modelle im Laufe der Jahre besser geworden, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass nur ein starkkurzsichtiger das Ding für eine Tanne halten würde.

Angeblich war ein Plastikbaum umweltfreundlicher und billiger. Letzteres leuchtete ihr noch ein, weil man nur einmal eine unverschämte Summe ausgab, während die echten Tannenbäume alle überteuert waren und man jedes Jahr ein neues Exemplar kaufen musste. Der Baum war dann entweder kleiner als im Jahr davor oder man zahlte zähneknirschend die gezahlte Summe.

Der Preis war auch der einzige Vorteil. Allerdings wurde im Zusammenhang mit Plastikbäumen immer wieder hervorgehoben, wie umweltfreundlich die Kunsttannenbäume waren. Wie konnte Plastik umweltfreundlich sein? Wenn man das Ding eines Tages entsorgen wollte, müsste man es in die Restmülltonne werfen, weil der Draht und die Kunstnadeln sich nicht trennen ließen. Das Thema Recyceling wurde deshalb auch nicht beleuchtet, stattdessen darauf hingewiesen, wie viele echte Tannenbäume man einsparte und ab wann sich der Kauf des Plastikbaums gelohnt hatte.

Die fehlende Mülltrennung war nicht das einzige Problem, denn man konnte nur falsches Licht benutzen. Das kostete Strom und wer wusste schon, wo der gerade herkam? Man konnte Ökostrom beziehen und dennoch von uralten Kohlekraftwerken erzeugten Strom in der Steckdose haben. Man sah dem nicht an, wie er produziert worden war, um Lichter zum Leuchten zu bringen. Sie wollte echte Kerzen, die ein warmes Licht spendeten und es am Ende so schön roch, wenn man sie ausmachte. LED-Leuchten hingegen waren zu grell, da konnten die noch so tun, als seien sie eine Kerze.

Das wichtigste Kriterium, dass gegen einen Plastikbaum sprach, war der Geruch nach Harz und Tannennadeln. Es ging nichts über diesen Duft, der zu Weihnachten gehörte wie Zimt und Kardamom. Kunststoff stank nach nichts, wenn man Glück hatte, oder penetrant nach Plastik.

Ihr kam kein Plastikbaum ins Haus. Stefan hatte immer wieder einen neuen Versuch gestartet, aber sie hatte alles erfolgreich abgewehrt. So weit kam das noch, dass so ein übler Staubfänger, wahrscheinlich noch mit Kunstschnee bedeckt und kleinen versteckten Lichtern in den Zweigen, ihr ins Haus kam.

“Liebling, ich bin wieder da”, hörte sie ihren Mann rufen. “Sieh, mal, was ich bekommen habe. Das war das letzte Exemplar und spottbillig.”

Sie trat in den Flur und erstarrte, als sie das Ding sah, worauf Stefan so stolz war – ein Plastiktannenbaum. Und auch noch mit Kunstschnee und versteckter Beleuchtung.

Ihre Beine fühlten sich so schwach an. Sie brauchte jetzt einen Stuhl.

(Helen Hoffmann)

Adventskalender 18. Dezember – Stottern oder Schweigen

Warum hatte die Klassenlehrerin nicht dieses Jahr endlich ein Einsehen gehabt und strich das Weihnachtsspiel von ihrer Abhakliste?
Jetzt saß er hier und quälte sich wie beim letzten Mal durch die gesamte Schulaufführung. Es gab Kinder, die Talent hatten, aber in dieser Klasse besaß es niemand, nicht einmal sein Sohn. Der hatte auch noch die Hauptrolle bekommen, spielte den Chef der Weihnachtszwerge. Deshalb hatte er unbedingt kommen müssen, obwohl er am liebsten diesen Desaster ferngeblieben wäre. Er hätte es schon noch geschafft, dass er hätte Überstunden machen müssen. Nur der stumme Blick seiner Frau, bloß pünktlich zu sein, hatte ihn schließlich dazu bewogen, zu kommen. Und er bereute es, bereute es zutiefst, wie er auch letztes Jahr am liebsten aufgestanden und gegangen wäre.
Er war niemand, der sich etwas schönreden konnte. Wenn er etwas schlecht fand, war es das auch. Selbst wenn sein Sohn die Hauptrolle spielte, konnte dieser das nicht wieder wettmachen. Dieses ewige Probleme lassen sich lösen und die alles wird gut-Mentalität waren genau das, was er nicht leiden konnte.
Jetzt saß er hier, musste sich diese elend lange Aufführung ansehen und vor allem anhören und musste aufpassen, dass er nicht wahnsinnig wurde. Für so etwas war er einfach nicht gemacht. Bei seiner Tochter hatte er noch vorschützen können, arbeiten zu müssen, aber als Elisa in der dritten Klasse war, kam seine Frau dahinter, dass er die Aufführungen schwänzte. Deshalb hatte er letztes Jahr zu den Aufführungen von seinen Kindern gehen müssen. Vierte Klasse war nicht mehr ganz so schlimm wie die erste, aber grauslig war es dennoch.
Konnte man so etwas nicht verbieten? Wahrscheinlich würde er mit seinem Vorschlag jede Menge böser Blicke ernten, aber es konnte doch nicht sein, dass er sich Aufführungen von untalentierten Kindern ansah. Reichte es nicht, wenn im Fernsehen mehr als die Hälfte der so genannten Schauspieler talentfrei war?
Jetzt konnte jemand seinen Text nicht und verstand auch nicht, was die Lehrerin ihm mit ihrem Textbuch zuflüsterte. Dann besser irgendwas erfinden und so tun, als hätte es immer so in der Rolle gestanden.
Wenn noch irgendetwas passierte, würde er gehen. Da merkte er, wie sich die Hand seiner Frau auf seinen Arm legte, als hätte sie gespürt, was in ihm vorging.
„Es kann nicht jeder ein Stück so gut inszenieren wie du“, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Da hatte sie recht. Er verstand sein Handwerk, aber er musste auch nicht mit untalentierten Laien arbeiten.
Endlich! Das Stück war vorbei. Das nächste Mal würde er sich Stöpsel in die Ohren stecken, damit er nichts hören brauchte. Ohne Ton war alles gleich viel besser. Darauf hätte er schon viel früher kommen können, wäre ihm einiges erspart geblieben.
(Helen Hoffmann)