In drei Tagen war Weihnachten, es sollte Gans geben und das Geflügel war nicht im Gefrierschrank. Der Super-GAU war eingetreten, den sie immer gefürchtet hatte. Die Hafermastgans war weg! Wo sollte sie jetzt noch eine Gans bekommen? Wenn es noch tiefgefrorenes Geflügel gab, handelte es sich um französische Puten. Wenn sie eines nicht aßen, war es Putenfleisch, weil es so schnell trocken wurde im Ofen.
Sie hatten eine gekauft, daran erinnerte sie sich deutlich. Vor vier Wochen waren sie im Supermarkt gewesen, hatten sich ein schönes tiefgefrorenes Exemplar ausgesucht und hatten es an der Kasse bezahlt. Oder spielte ihr die Erinnerung einen Streich?
Hektisch lief sie zum Regal und nahm eine ausrangierte Keksdose, um die Kassenzettel der letzten Wochen zu studieren. Da, sie hatte den Zettel gefunden. Knapp 25 Euro hatten sie für die Hafermastgans hingeblättert. Und wieso war sie nicht im Gefrierschrank? Hatte sie nie den Weg dorthin gefunden?
Ein jäher Schreck durchfuhr sie. Hatten sie das Geflügel im Einkaufswagen vergessen? Weihnachtseinkäufe stressten sie immer und es war durchaus möglich, dass sie den Tiefkühlvogel liegen gelassen hatte. Was hatte sie nicht schon alles vergessen? Ein Gans war nur der Höhepunkt all dessen.
Was sollte sie anstelle des Vogels machen? Jeder in der Familie erwartete an Heiligabend eine knusprige Gans auf dem Tisch stehen zu sehen. Wenn keine da war?
Hatte sie den Gefrierschrank auch richtig durchgesehen? Vielleicht war der Tiefkühlvogel irgendwo ganz nach hinten gekommen und sie sah ihn deshalb nicht.
Sie öffnete noch einmal den Gefrierschrank, zog die erste Schublade ganz heraus und durchwühlte deren Inhalt. Nichts! Dasselbe machte sie mit der zweiten Schublade, die sie danach kaum wieder reinschieben konnte, weil sie die ganzen Beutel und Schachteln wild durcheinander geworfen hatte.
Gerade wollte sie die dritte Schublade herausnehmen, als ein Schlüssel ins Türschloss gesteckt und die Haustür aufgeschlossen wurde. Das würde ihr Mann sein. Wie sollte sie ihm nur sagen, dass sie die Gans verloren hatte?
Sie sah auf die Uhr und stellte fest, dass er eine Stunde später als üblich gekommen war.
„Hast du im Stau gesteckt?“, wollte sie wissen.
„Nein, ich war nur noch kurz im Supermarkt, wie wir es besprochen haben.“
„Ich habe doch alles, also fast alles“, sagte sie gedehnt und suchte nach den richtigen Worten, um ihrem Mann zu beichten, dass es dieses Jahr keine Gans an Heiligabend geben würde.
„Genau, du hast fast alles. Es fehlt nur noch das hier“, sagte er und hielt ihr die Tiefkühlgans hin.
„Wo hast du die denn her?“, fragte sie überrascht.
„Aus dem Supermarkt“, sagte er und wunderte sich über ihre Reaktion.
„Aber die haben seit letzter Woche keine einzige mehr. Ist die aus einer neuen Lieferung?“
„Nee, das ist unsere Gans, die wir vor vier Wochen gekauft und dann dem Supermarkt zur Lagerung übergeben haben. Ich weiß doch, wie voll der Gefrierschrank bei uns immer ist. Da hätte die Gans nur gestört und wenn der Supermarkt die Lagerung ohne Mehrkosten anbietet, warum sollten wir es nicht nutzen?“
„Ach!“
Jetzt erinnerte sie sich. Sie hatten die Gans an der Kasse bezahlt und sie einlagern lassen. Das hatte sie völlig vergessen. Wenigstens hatte ihr Mann daran gedacht, sie abzuholen, sonst würden sie an Heiligabend tatsächlich ohne Gans da stehen.
(Helen Hoffmann)