#Adventskalender-Minutengeschichte – 16. Dezember: Adventsmusikkonzert im Altenheim

Wogegen war er heute alles allergisch? Nüsse und Mandeln, Äpfel, Laktose und Gluten sorgte bei ihm für Unwohlsein, Pusteln und wer weiß noch was. Dazu war er ganz strenger Veganer, der sich nur von Rohkost ernährte. Damit sollte er von den angebotenen Kuchen verschont werden, die man ihm jedes Jahr aufnötigen wollte.

Während eines Keyboardvorspiels seiner Schüler konnte er nichts essen. Nachher hatte er gerade den Mund randvoll, wenn er den nächsten Interpreten ankündigen wollte. Nichts war schlimmer, als nicht verstanden zu werden, besonders bei Herrschaften, die ohnehin schlecht hörten.

Gleich vier Uhr. Die meisten Alten schienen ungeduldig auf die Weihnachtslieder zu warten. Der Alltag sah wohl ziemlich eintönig aus. Aus Erzählungen wusste er, dass man nur auf die täglichen Mahlzeiten wartete und ansonsten in seinem Zimmer vor dem Fernseher hing. Da dürften ein paar Weihnachtslieder eine schöne Abwechslung sein.

Mal überprüfen, ob alle da waren. Abgesagt hatte nur einer, doch bei dem war es nicht schade. Der schwänzte sowieso mehr Stunden als er da war. Solange die Eltern bezahlten, konnte es ihm egal sein. Eine Email hatte er ihnen bereits geschrieben, nur keine Antwort erhalten. Waren die nicht daran interessiert, dass ihr Sohn keine Fortschritte zeigte? Ein Wunderkind war er nicht, deshalb dürfte auffallen, wenn er immer noch nicht über Mary hat ein kleines Schaf hinausgekommen war und bis auf Alle Jahre wieder kein Weihnachtslied beherrschte. Was hieß beherrschen? Mit Müh und Not fand und hielt er die Töne. Am besten kümmerte er sich im nächsten Jahr um ein erneutes Gespräch.

„Darf ich Für Elise spielen?“, wurde er von Raffi aus seinen Gedanken gerissen.

„Nein, du spielst Winterwonderland und Last Christmas, kein Beethoven.“

Raffi zog sich schmollend auf seinen Platz zurück.

Dieser Junge! Immer und überall kam er mit Für Elise an. Das einzige Stück, das er auswendig konnte, weil er es mit den leuchtenden Tasten seines Keyboards gelernt hatte. Was es heutzutage alles gab, darüber konnte er nur den Kopf schütteln. Einen Schüler wie Raffi auf den Boden der Tatsachen zu holen, dass er trotz Beethoven erst mit einfachen Stücken weitermachen sollte, war nicht eben leicht.

„Wir haben einen schönen Streuselkuchen“, sagte die Kuchentante. „Oder einen saftigen Butterkuchen.“

„Danke, aber ich bin Veganer und esse keinen Indrustriezucker.“

„Ach, wie schade. Apfelkuchen dürfen sie auch nicht. Was machen wir da?“

„Ich muss den ersten Schüler ankündigen“, rettete er sich aus der Bedrouille.

Er hielt eine kleine Rede wie sehr er sich freue auch in diesem Jahr wieder mit seinen Schüler hier auftreten zu dürfen und sagte seinen ersten Schüler an. Der kam nicht. Noch einmal rief er Theo auf, aber nichts.

„Der ist nicht da“, sagte Leah und setzte sich stattdessen ans Keyboard. „Ich spiel’s, ich kann jedes Lied.“

Ja, da hatte Leah recht. Seine älteste Schülerin hatte alle Lieder im Laufe der Jahre bereits gespielt und beherrschte sie. Im Notfall konnte sie immer einspringen.

„Gut“, nickte er ihr zu und kündigte Leah an, die nun Vom Himmel hoch spielen würde.

„Luther!“, rief jemand in den Saal und klang alle andere als erfreut.

Was war das denn?

Leah sah in fragend an und er gab ihr das Zeichen anzufangen.

Es wurde mäßig mitgesungen und schon nach der zweiten Strophe würgte er sie ab. Wenn das so weiterging, würde es eine sehr anstregende Veranstaltung werden.

„Soll ich Für Elise spielen?“

„Nein, Raffi, du weißt, was du spielen sollst und bist jetzt nicht dran.“

Er kündigte das nächste Lied an. Dieses Mal Süßer die Glocken. Bei dem Lied lief es weitaus besser. Wieso hatte das eben nicht funktioniert?

„Ich glaube, nächstes Jahr sollten wir nicht mehr Vom Himmel hoch spielen“, meinte Leah. „Dieses Lied kommt hier nicht an.“

„Wieso nicht? Das müssen die alle in ihrer Jugend gesungen haben.“

„Das ist ein katholisches Altenheim und das Lied wurde von Martin Luther geschrieben.“

Luther! Jetzt wusste er, was der Einwurf vorhin zu bedeuten gehabt hatte. Dieses Lied war nicht erwünscht.

Bloß, weil es von einem Protestanten geschrieben worden war, konnte man es doch in einem katholischen Altenheim spielen. Die Alten wussten gar nicht mehr, von wem das war. Die waren froh, wenn sie singen konnten.

„Jetzt habe ich etwas für Sie“, kam die Kuchentante an und stellte einen Teller vor ihm ab. „Das ist nicht gebacken. Der Boden ist aus Reisflocken mit Dattelsirup und da drüber eine Füllung aus Johannisbeeren, eine Schicht aus weiteren Reisflocken und das ist mit veganer Sahne ummantelt worden. Das können Sie essen.“

Erwartungsvoll sah sie ihn an. Er lächelte gequält und brach sich ein Stück von dem Tortenstück ab, das er mit der Gabel aufspießte.

„Sehr schön“, sagte er, obwohl es ihm überhaupt nicht schmeckte, viel zu süß und ansonsten schmeckte man nur Johannisbeeren, die er seit seiner Kindheit nur noch als Marmelade aß. Wieso hatte er nicht gesagt, dass er auch an einer Soja-Unverträglichkeit litt? Das musste er sich für nächstes Jahr merken. Am besten sagte er, sich den Magen verdorben zu haben, dann würde er Haferschleim serviert bekommen. Ach so, das ging nicht, da er angeblich eine Glutenunverträglichkeit hatte. Irgendeinen Ersatz würde man schon finden.

„Raffi, du bist dran und wehe, du spielst auch nur einen einzigen Ton von Für Elise, dann wirst du nur noch Alle meine Entchen spielen.“

(Helen Hoffmann)