Was war nur geschehen? Vor wenigen Wochen hatte er noch mit all den anderen in Reih und Glied gestanden. Gegenseitig hatten sie sich ihren schönen Wuchs geneidet. Jeder wollte der Schönste sein. Was hatte er sich gefreut, als er mit einigen anderen ausgewählt worden war, um später das Heim einer Familie zu schmücken und Behaglichkeit auszustrahlen.
Er war sicher gewesen, dass er der erste wäre, den man nehmen würde. Er war gut gewachsen, hatte einen schönen Stamm und alle Nadeln waren bei ihm dran, von seinem dichten Kleid gar nicht erst zu sprechen. Doch statt ihm waren all die anderen genommen und gekauft worden. Ihn hatten sich einige angesehen, aber jeder hatte etwas gefunden, was ihm nicht gefiel und ihn wieder weggelegt. So war er der letzte geblieben. All die anderen, die es nicht am ersten Tag geschafft hatten, jemanden zu finden, hatten im Laufe der Wochen noch jemanden gefunden, aber ihn hatte niemand beachtet.
Was war nur mit ihm? Warum wollte ihn niemand haben? Er war schön gewachsen. Ein prachtvoller Weihnachtsbaum. Das musste jemand sehen!
Aber es hatte niemand gesehen. Weihnachten näherte sich immer schneller. Inzwischen war er direkt an die Kasse gestellt worden, aber niemand wollte ihn. Anscheinend hatten alle bereits einen Baum. Es war traurig, was für ein einsames Dasein er fristen musste. Er fühlte sich verloren.
Jetzt lag er hier in der Kälte und fror. Niemand mehr, der ihn beachtete. Was hatte er falsch gemacht?
Trotz der Wochen in der Wärme hatte er kaum Nadeln verloren, sah immer noch frisch aus. Nur das Netz, dass ihn eingeengt hatte, war an einigen Stellen kaputt. Nun konnte man viel deutlicher sehen, wie stattlich er aussah. Wollte ihn immer noch niemand haben?
Selbst beim Personal hatte er Mitleid erregt, aber mitnehmen wollte ihn niemand. Jetzt hatte man ihm sogar ein Schild umgehängt. Er hatte gehört, was da drauf stand. Nehmt mich mit. Ich bin kostenlos. Selbst als Gratis-Angebot schien er ein Ladenhüter zu sein, denn niemand hatte sich seiner erbarmt. Es war traurig, welches Schicksal er fristen musste.
Wollte ihn denn niemand haben? Sollte er morgen an Heiligabend seinen Weg in die Mülltonne finden? Er war nicht aus der Plantage gezogen, um so schmachvoll zu enden.
Hallo? Wollte ihn niemand haben? Er war hier! Völlig kostenlos! Gratis! Umsonst!
Verzweifelt versuchte der einsame Tannenbaum auf sich aufmerksam zu machen, doch die Menschen waren viel zu hektisch, als dass sie einen Blick auf ihn warfen. Wie sollte er nur jemanden finden, der ihn mit nach Hause nehmen würde? Er konnte doch nicht sprechen.
Traurig ließ er Nadeln und Äste hängen und fand sich damit ab, dass es nicht mehr lange dauern würde bis er die riesige Mülltonne von innen betrachten würde. Davor fürchtete er sich. Es würde eng und dunkel werden. Das wollte er sich gar nicht vorstellen.
Die anderen Bäume würden über ihn lachen, wenn sie von seinem Schicksal erfahren würden. Was hatte er für Töne gespuckt, was für ein schöner Baum er sei.
„Guck mal, Papa. Ein Weihnachtsbaum“, hörte er eine Kinderstimme sagen.
Wo war jemand, der ihn erblickt hatte? Aufgeregt raschelte er mit den Nadeln, um Aufmerksamkeit zu erringen.
„Da steht etwas“, sagte der Junge und deutete auf den Zettel.
„Der Baum wurde nicht verkauft, deshalb ist er jetzt gratis“, sagte sein Vater. „Er liegt hier und wartet auf einen neuen Besitzer.“
„Können wir ihn nicht mitnehmen?“, fragte der Junge.
„Ich dachte, du wolltest keinen Baum“, sagte sein Vater.
„Schon, aber sieh ihn dir an. Der liegt hier ganz einsam und würde sich bestimmt freuen, wenn wir ihn mitnehmen und schmücken.“
„Wenn du das denkst, sollten wir es tun“, sagte der Vater und warf sich den Baum mit einer Leichtigkeit auf die Schulter, als würde er nichts wiegen, um ihn nach Hause zu transportieren.
Vorsichtig! Er war empfindlich. Nicht so schaukeln, sonst wurde ihm übel. So war es besser.
Der Tannenbaum freute sich, dass er noch jemanden gefunden hatte, der ihn mitnahm und schmücken würde, dass er seine volle Pracht entfalten konnte.
Vergessen war die Enttäuschung, dass er übrig geblieben war. Auch wenn es länger gedauert hatte und er sich fast schon damit abgefunden hatte, in der Mülltone zu landen, war noch ein Wunder geschehen.
Er würde der schönste aller Weihnachtsbäume sein, die man jemals gesehen hatte.
(Helen Hoffmann)