13. Kapitel

Masut hatte es kommen sehen. Eines Tages wäre Johann erwischt worden und das Versteckspiel aufgeflogen. Nun war es geschehen, doch anstelle von Konsequenzen, behielt Pascal das Geheimnis für sich. Pascal war der Name des jungen Tierpflegers, der Johanns Maskerade aufgedeckt hatte. Allerdings bestand er darauf, daß Masuts Freund das Versteckspiel beendete. Was er anstelle dessen tun sollte, hatte Pascal nicht gesagt, nur daß er sich kümmern wolle. Wie das aussehen sollte, wußte Masut nicht und konnte es sich auch nicht vorstellen.
Er sah auf, als er Schritte kommen hörte. Johann trug wieder das Gewand eines Ägypters, doch hatte er sein Gesicht, seine Hände und auch seine Füße nicht mit Erde geschwärzt. Froh war er, daß das Versteckspiel endlich zu Ende war, auch Masut dachte so, denn er war nicht mehr so gereizt wie in den letzten Tagen.
Der blonde Junge in dem weißen Gewand saß vor der Hütte der Glasbläser und bot die fertig gestellten Produkte zum Verkauf an. Irritiert gingen Besucher an ihm vorbei und fragten sich, ob es sich bei ihm um einen Ägypter handle. Johann klärte sie nicht auf, sondern schmunzelte über diese Menschen, die ihn für einen Ägypter hielten und dennoch nicht sicher waren, ob er einer war. Wenn er gefragt worden wäre, hätte er ihnen geantwortet, daß er kein Ägypter sei, sondern sich so für den Verkauf der Waren angezogen hätte. Allerdings wagte niemand ihn zu fragen, weshalb er stumm blieb. Vielleicht hielten sie ihn wirklich für einen Ägypter und stellten ihm deshalb keine Frage, weil sie glaubten, er könne sie nicht verstehen, da er ihre Sprache nicht beherrsche.
Der Verkauf ging nur schleppend voran, was den blonden Jungen nicht weiter störte. Beobachtete er eben die Besucher, das Geschehen im Dorf und lauschte dem Lärm der Tiere.
Johann hörte Stimmen näher kommen. Eine konnte er als die von Pascal identifizieren, aber die zweite, die einer Frau gehörte, kannte er nicht.
„Da haben wir ihn schon, unseren falschen Ägypter!“
Der gerade Angesprochene blickte hoch und mußte blinzeln, da er direkt in die Sonne sah. Doch dann erblickte er das Gesicht einer jungen Frau, die so alt sein mußte wie Pascal. Sie trug ein langes hellblaues Kleid mit kurzen Ärmeln. Passend dazu hatte sie einen Sonnenschirm in der gleichen Farbe und einen Strohhut auf dem blonden Haar, der ein blaues Band hatte. Das Band war zu einer Schleife geknotet und die langen Enden hingen über die Hutkrempe und hatten sich mit dem strohblondem Haar, das ein wenig dunkler als das von Pascal war, vermengt.
„Du bist also Johann. Mein Bruder redet seit Tagen ohne Unterlaß von dir. Er scheint große Stücke auf dich zu halten.!
Johann merkte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. In diesem Augenblick hätte er sich gewünscht, sein Gesicht geschwärzt zu haben. Ihm war es peinlich, daß jemand ihn lobte, vor allem wenn er ihn kaum oder gar nicht kannte.
„Das hätte ich wohl nicht sagen sollen. Deinem jungen Freund ist es offensichtlich peinlich,Pascal.“
„Was mußt du auch gleich mit der Tür ins Haus fallen? Du bist und bleibst ein Plappermaul, Klara.“
„Werd‘ nicht frech!! Ich bin die ältere von uns beiden.“
„Deshalb darfst du auch repräsentieren, während ich schuften muß.“
„Wer wollte denn Medizin studieren? Du hättest Vaters Firma sofort übernehmen können.“
„Ich verstehe nichts vom Geschäft. Das ist mir immer fremd gewesen, zum Leidwesen unseres Vaters.“
„Ach Vater, Gott hab‘ ihn selig.“ Klara, Pascals Schwester, wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel.
„Mein Vater ist auch tot“, fuhr Johann dazwischen. Bis jetzt hatte er stumm neben den Geschwistern gesessen und ihnen teilnahmslos zugehört. Die beiden mochten sich gern, neckten sich, doch nicht auf beleidigende Art und Weise. Der falsche Ägypter hatte sich immer Geschwister gewünscht, doch war er ein Einzelkind geblieben. Dann waren seine Eltern gestorben und er zu seiner ungeliebten Tante gekommen, von deren Existenz er bis dahin nichts gewußt hatte. Deren Söhne hatte er wahrlich nicht als Geschwister bezeichnen können. Sie hatten ihm mehr als einmal üble Streiche gespielt.
„Armer Junge, bist du deshalb Schiffsjunge geworden, um Geld für deine Mutter und deine Geschwister zu verdienen?“
Klara hatte sich zu ihm herunter gebeugt und wischte ihm die Tränen aus dem Gesicht.
„Meine Mutter ist auch tot und Geschwister habe ich keine.“
„Dann bist du ja ganz allein. Hast du keine Verwandten mehr?“
Johann senkte den Kopf. Wenn er von seiner Tante sprechen würde, müßte er sicherlich zu ihr zurück und das wollte er auf keinen Fall. Also blieb sein Mund verschlossen.
„Hast du wirklich niemanden mehr?“, hakte Pascal nach, dem nicht entgangen war, daß Johann die Frage unangenehm gewesen war und er nicht antworten wollte.
Der blonde Junge drehte seinen Kopf weg. Er wollte die Frage nicht beantworten. Unter allen Umständen wollte er schweigen, egal was käme.
„Sag mir die Wahrheit, Johann, sonst muß ich dich melden“, drängte Pascal.
Klara warf ihren Bruder einen bösen Blick zu. Wie konnte er den Jungen so ängstigen? Was sollte dieser von Pascal denken? Daß dessen Freundschaft nur geheuchelt war?
„Wie kannst du ihm solch eine Angst einjagen? Sieh nur, wie verstört er ist. Schäm‘ dich, Monsieur Justine!“
Nun war Vorsicht geboten. Wenn Klara ihn mit ‚Monsieur Justine‘ anredete, war sie wütend auf ihn. Dann konnte jedes falsch gewählte Wort dafür sorgen, daß sie in den nächsten Tagen kein Wort mehr mit ihm reden würde.
„Es tut mir leid, Johann, aber ich will dir doch nur helfen.“
Der kleine Bursche hatte den Kopf wegedreht und schluchzte leise. Pascal hatte sich als sein Freund ausgegeben, dabei wollte er ihn nur loswerden, genauso wie seine Tante. Die Menschen waren alle gleich.
„Johann, ich rede mit dir. Sieh mich an!“
Doch der blonde Junge reagierte nicht.
„Da siehst du es. Er hat das Vertrauen in dich verloren. Kein Wunder, wie du dich benommen hast. Wie ein Elefant im Porzellanladen. Am Ende gibt es nur Scherben.“
„Elefanten sind vorsichtiger als du denkst. Nehmen wir einmal Bertha, die ist sehr feinfühlig und…“
Barsch unterbrach Klara ihren Bruder.
„Oh ja, feinfühlig, im Gegensatz zu dir. Du hast die Feinfühligkeit mit Löffeln gefressen, die so löchrig waren wie ein Sieb.“
„Jetzt ist es aber genug!“, sagte Pascal lauter, als er es beabsichtigt hatte.
Klara verstummte, doch ihr Blick mit dem sie ihren Bruder bedachte, hätte töten können.
„Johann, sieh mich an.“ Doch der blonde Junge schüttelte den Kopf. Die Arme hatte er verschränkt, um seine Position zu verdeutlichen. „Du bist ein sturer Bursche.“ Pascal faßte Johanns Kinn und drehte dessen Kopf zu sich. Ein verweintes Gesicht, aus dessen Nase der Rotz lief, sah ihn an. „Es tut mir leid, aber ich will dir nur helfen“, sagte er freundlich.
Eilig ging Klara dazwischen, um das Vertrauen des Jungen zu gewinnen. Er hatte doch niemanden außer ihnen beiden. Und wenn er jetzt nicht mit der Wahrheit herausrücken wollte, würde er es vielleicht später tun. Mit der Zeit würde er genug Vertrauen besitzen, um sich zu öffnen. Aber ihr Bruder versuchte es mal wieder mit der Hau-Drauf-Taktik. Doch damit würde er nichts erreichen.
„Pascal wird nichts sagen und ich auch nicht, selbst wenn du noch Verwandte haben solltest. Du wirst schon deine Gründe haben, warum du von ihnen weg bist.“
Klara reichte Johann ihr Taschentuch, das nach Veilchen roch. Dankbar nahm er es.
„Eine Tante, aber ich will nicht zu ihr zurück. Lieber laufe ich weg!“
„Schon gut, wir werden nichts sagen, nicht wahr, Pascal?“
Sie stieß ihren Bruder an, als dieser nicht gleich antwortete.
„Ja, wir schweigen wie ein Grab. Ehrenworz. Doch hier kannst du nicht bleiben. Du mußte zur Schule gehen und einen Beruf erlernen oder willst du wieder als Schiffsjunge zur See fahren?“ Johann schüttelte energisch den Kopf. Das wollte er überhaupt nicht. Er hasste die Seefahrerei, das Wasser, das Meer, dieses ewige Schaukeln. Und dann war da die Gefahr, daß etwas passieren könnte, die Angst, daß das Schiff unterging wie die Titanic. „Na siehst du, aber um dich zur Schule schicken zu können, brauchen wir deinen vollständigen Namen.“
Johann sah abwechselnd zu Pascal und dessen Schwester Klara. Was sollte noch geschehen? Er konnte seinen Namen sagen und würde in ein Waisenhaus kommen, von dort ging es wieder zu seiner Tante, zu der er nicht wollte. Oder Pascal und Klara würden ihm wirklich helfen und ihn bei sich behalten. Aber konnte er ihnen trauen? Er wußte es nicht und zögerte. Er überwand sich erst, seinen Nachnamen zu nennen, als Klara ihm aufmunternd zunickte. Zu ihr hatte er Vertrauen gefaßt. Sie meinte es ehrlich.
„Mellinghaus, Johann Mellinghaus.“ Kaum hatte er seinen Namen gesagt, wechselten Bruder und Schwester einen Blick. Es war ein mißtrauisch und zugleich überraschter Blick, als würden sie den Namen kennen. „Habe ich was Falsches gesagt?“, fragte er besorgt.
„Du heißt wirklich Mellinghaus?“ Pascal klang mißtrauisch.
Johann nickte.
„Einer unserer Geschäftspartner heißt doch Mellinghaus. Erinnere dich, Klara, er hat uns geholfen, als Vater gestorben war.“
„Richtig, Georg Anton Mellinghaus, genannte der „kalte Scheffler.“
„So heiße ich auch. Nicht Scheffler, aber mein vollständiger Name ist Johann Georg Anton Mellinghaus.“
Verwirrt starrten Pascal und Klara den blonden Jungen an. Sie konnten nicht glauben, was sie gehört hatten. Der junge Tierpfleger war der erste, der sich halbwegs faßte und seine Sprache wiederfand.
„Das kann nicht sein!“ Pascal wollte nicht glauben, daß der alte Mellinghaus einen weiteren Verwandten hatte. Seitdem sein Sohn verschwunden war, hatte er keinen Nachfolger mehr, was ihn nicht davon abhielt, sein Geschäft auszubauen und sein Vermögen zu vergrößern. „Wie hieß dein Vater? Etwa Richard Mellinghaus?“
Johanns Augen weiteten sich vor Erstaunen. Das war das erste Mal, daß jemand seinen Vater namentlich kannte. „Ja, genau! Kanntest du ihn?“ Er machte sich Hoffnungen jemanden getroffen zu haben, der ihm mehr von seinem Vater erzählen konnte. Er hatte kaum noch Erinnerungen an ihn. Es war so lange her, daß sein Vater gestorben war.
„Persönlich nicht, aber ich kenne seinen Vater, deinen … Großvater.“ Nun war das Wort raus, doch anstatt das sich Johann freute, trübte sich sein Gesicht.
„Hör auf mich zu ärgern. Ich habe keinen Großvater, warum bin ich nicht zu ihm gekommen, sondern zur Schwester meiner Mutter?“
Diese Frage konnten weder Pascal noch Klara beantworten. Entweder war nicht gründlich genug gesucht worden oder der alte Mellinghaus hatte seinen Enkel nicht gewollt, weil er dessen Vater verstoßen hatte.
Es ging das Gerücht, daß der Sohn des alten Mellinghaus die Verbindung mit einer Frau eingegangen war, die dessen Vater nicht vorteilhaft schien. Vater und Sohn hatten sich entzweit und waren eigene Wege gegangen. Danach war von Richard Mellinghaus nie mehr die Rede gewesen. Für seinen Vater war er tot, war es nun auch in Wirklichkeit, doch sein Sohn, der Enkel des alten Mellinghaus, lebte. Das änderte alles. Johann mußte seinem Großvater vorgestellt werden, der seinem Sohn längst verziehen hatte und über seinen damaligen Ausbruch stark verbittert war. Vielleicht konnte er an seinem Enkel das Unrecht wieder gut machen, daß er seinem Sohn angetan hatte. Doch wie sollte man dem alten Mellinghaus beibringen, daß sein Sohn tot war, er aber einen Enkel hatte? Darüber könnten sie sich später Gedanken machen. Nun mußte Johann erst einmal neu eingekleidet werden, bevor er seinem Großvater vorgestellt werden konnte.