#aprilsettings Tag 19 – Gibt es Tiere an deinen Schauplätzen?

Kommt darauf an, um welches Buch es sich gerade handelt. Bei DIE ROLLEN DES SETH kommen einige Tiere vor und speziell ein Elefant namens Bertha. Die lebt in dem Stellinger Tierpark und wird unter anderem von Pascal versorgt, der dort als Tierpfleger arbeitet. Sie ist der Liebling der Kinder und sehr gelehrig. Angeblich kann sie sogar sprechen, aber ob das wirklich stimmt…
Die Handlung des Romans spielt einmal in dem Zeitraum von 1912 bis 1922 und von 2009 bis 2012. Das Tier, was immer wiederkehrt, ist der Elefant und zwar immer eine bestimmte. In der Handlung von vor über hundert Jahren ist es Bertha und in der von 2009 bis 2012 ist es Elefantin Mala. Während die letzte tatsächlich existiert, hat es erstere nicht gegeben. Es gab zwar tatsächlich einen „Liebling der Jugend“, aber die hatte einen anderen Namen. Außerdem waren die Elefanten damals nicht lange in dem Tierpark untergestellt, sondern wurden schnell weiter vermittelt, doch manchmal gab es eine Ausnahme…
In den nachfolgenden Romanen IM ZEICHEN DES DENKMALS, DAS GUTACHTEN DES TEUFELS und WIE ALLES BEGANN kommt dann Elefantin Mala vor. Im letztgenannten ist es der Hamburger Tierpark, weil die Handlung 2003 spielt, während Tausendschön in den anderen beiden Thrillern bereits im Pairi Daiza in Belgien lebt, wo sie im Juli 2012 hinziehen musste.
Ansonsten gibt es keine Tiere, die bei meinen Schauplätzen vorkommen. Natürlich schreibe ich auch mal von Löwen oder Tigern, aber in der Hauptsache geht es immer nur um einen Elefanten. Diesem widme ich auch jedes Buch. Es kann ihr zwar egal sein, aber ich denke, wenn sie davon wüsste, würde sie sich freuen. Mala hält nämlich sehr viel auf sich. Aber das ist eine andere Geschichte, die man vielleicht auch mal in einer Challenge oder Ähnlichem beantworten könnte. Warum widmet man jemand Bestimmten ein Buch.
(Helen Dalibor)

Abschiedsszene

Stellingen, 02. Oktober 1920
„Mach’s gut, Jenny. Das wird heute das letzte Mal sein, daß wir uns sehen. Wenn es nach mir gehen würde, bliebest du hier. Doch wie sollte ich dir deine tägliche Futterration beschaffen? Und woher den Platz nehmen?“ Gedankenverloren strich Pascal über den rauen Rüssel. „Nein, es wird das beste sein, wenn du gehst. Auch wenn ich dich nur schweren Herzens ziehen lasse, doch ich muß dein Wohl im Auge haben.“
Jenny rüsselte an seinem Hals und bließ ihm warme Luft ins Gesicht.
Ob sie spürte, daß sie sich heute zum letzten Mal sahen? Ja, er glaubte, daß Jenny wußte, warum er noch einmal gekommen war. An ihren Augen konnte er erkennen, daß sie begriff, warum er noch einmal mit ihr sprach. Er war gekommen, um endgültig Abschied von der Elefantenkuh zu nehmen. Ihre klugen, wachen Augen blickten traurig und sie weinte. Die Haut drum herum hatte sich von ihren Tränen dunkel verfärbt.
„Ich weiß, daß es für dich nicht leicht werden wird. Erst mußt du deine Heimat und deine Bezugspersonen verlassen und dann wartet auch noch eine fremde Sprache auf dich.“ Jenny verstand nur Deutsch, weshalb sie zweimal zurückgeschickt worden war. Erst nachdem sie zum wiederholten Male in den Tierpark zurückgekehrt war, kam Pascal dahinter, daß sie Verständigungsprobleme gehabt hatte. Niemanden verriet er Jennys Geheimnis, sondern ließ es dabei, daß sie als Problemfall galt. Denn er hatte sie lieb gewonnen und nutzte ihre Gelehrigkeit, um dennoch von ihrem Nutzen für den Tierpark zu überzeugen. Nun würde all das nicht mehr helfen, er mußte heute von ihr Abschied nehmen. – Ein Abschied für immer, daß wußte er. „Aber versprich mir, daß du dich benehmen wirst, daß du fleißig bist und all das machst, was von dir verlangt wird. Behandle deine Pfleger gut, auch wenn sie häßlich zu dir sind. Ich möchte nicht, daß du wie deine Artgenossin endest, die Mr. Edison auf einer Art elektrischem Stuhl hingerichtet hat. Und nur, weil er in seiner Verbohrtheit zeigen wollte, wie gefährlich der Wechselstrom von George Westinghouse ist. Glaubt Mr. Edison etwa, sein Gleichstrom wäre sicherer? Aber er kann einfach nicht verlieren. – Unschuldige Tiere töten, nur weil man jemand anderen bloßstellen will, ist nicht richtig.“
Die Dickhäuterin gab einen Brummton von sich und suchte in Pascals Taschen nach Eßbarem. Allerdings hatte sie damit kein Glück, weshalb sie den Rüssel zurückzog und ihn sich unschlüssig ins Maul steckte.
„Pascal, es wird Zeit“, mahnte ihn eine Stimme.
Der junge Tierpfleger nickte unwillig, ergab sich aber ohne Murren dem Befehl, der den Worten unsichtbar anhaftete.
„Nun müssen wir Abschied nehmen. Wir werden uns nie mehr wiedersehen, daß spüre ich. Doch sei gewiß, meine Kluge, meine Schlaue, du wirst immer einen Platz in meinem Herzen haben.“ Er stockte. Es war so schwer die richtigen Worte zu finden, so schwer sie über die Lippen zu bringen. Sein Hals fühlte sich an, als habe er einen riesigen Stein verschluckt, der ihm das Schlucken schwer machte. Seine Kehle schmerzte. Tränen stiegen ihm unaufhörlich in die Augen. „Ich werde dich nie vergessen. Egal was passiert.“
Schweigend strich er über Jennys Rüssel, fühlte die rauhe Haut und die pieksenden Stellen, wo sich Haare befunden hatten und bei der täglichen Körperpflege abgebrochen waren. Nun konnte er die Tränen nicht mehr zurückhalten, seine Augen schwammen, konnten das Naß nicht mehr aufhalten, daß nun seine Wangen herunterlief.
Jenny war genauso traurig wie Pascal und schweigend weinten sie, dicht aneinander geschmiegt, bis das Gitter zur Box der Elefantenkuh geöffnet wurde. Da riß sich der junge Justine zusammen, streckte sich und wischte entschlossen die Tränen aus seinem Gesicht.
„Es hilft ja alles nichts, meine Socke, unsere Wege werden sich nun für immer trennen.“
Er wollte gehen, doch die Elefantenkuh hielt ihn am Arm fest.
Noch gehst du nicht, ehe ich dir nicht mein Abschiedsgeschenk überreicht habe. Es ist das einzige, was ich dir geben kann.
Entschlossen nahm die Elefantenkuh ein Büschel Stroh in den Rüssel und legte es sanft in Pascals Hand. Dieser sah sie verdutzt an.
„Willst du mir das zum Abschied schenken?“, frage er skeptisch und sah der Elefantenkuh in die klugen Augen.
Mit einem Kopfnicken beantwortete Jenny seine Frage.
Ja, er sollte das Stroh zum Andenken an sie behalten. So wie sie ihn durch das Tuch in Erinnerung behalten würde, das sie ihm vorhin abgeluchst hatte. Sie würde es hüten wie ihren Schatz, was es für sie auch war, und niemandem zeigen, denn das Tuch gehörte ihr ganz allein.
Sie beobachtete ihren Lieblingspfleger, wie er das Stroh ordnete und das Büschel dann fest mit den Fingern der Hand umschloß. Die Elefantin betrachtete ihn gütig. Nahm seine Gestalt, sein Gesicht, seine grünen Augen und seine Stimme in sich auf. All dies wollte sie tief in ihrem Inneren bewahren, damit sie ihn nie mehr vergaß.
Pascal war alles für sie gewesen. Er hatte immer an sie geglaubt, hätte alles für sie getan, damit es ihr gut ging. Denn er hatte sie zu einem Teil seiner Seele gemacht. Nie hätte er zugelassen, daß sie sich trennen mußten. Das hatten andere entschieden.
„Komm“, sagte der junge Tierpfleger und hielt ihr die Hand hin, damit sie ihren Rüssel hineinlegen konnte. Doch Jenny schob ihn sanft vorwärts, suchte im Stroh mit ihrem Rüssel nach etwas und als sie es gefunden hatte, trottete sie zufrieden hinter ihrem Menschenfreund her.
Als sie draußen angekommen waren, wühlte die Dickhäuterin noch einmal in seinen Taschen, obwohl sie wußte, daß sie leer waren. Und obwohl sie nichts fand, wirkte sie überaus zufrieden. Als sei ihr etwas gelungen, was niemand mitbekommen hatte, allen voran nicht Pascal.
Noch einmal streichelte der junge Justine zärtlich über ihre faltige, rauhe Haut. Jenny erwiderte seine Berührung und fuhr ihm durchs Gesicht, pustete ihn an und ließ ihren Rüssel dann für wenige Augenblicke um seinen Hals geschlungen liegen. Wehmütig blickte sie auf ihn nieder.
Nun war der Zeitpunkt des Abschieds gekommen, sie spürte es ganz deutlich.
„Mach’s gut, meine Schöne, meine Kluge. Lebwohl, alte Socke“, brachte er stockend mit tränenerstickter Stimme gerade noch zustande. Dann, ohne sich noch einmal nach der Dickhäuterin umzudrehen, rannte er zurück ins Elefantenhaus. Erst in Jennys Box kam er zum Stehen. Sein Herz und seine Lunge schmerzten, er hätte mit dem Splitter im Körper nicht so rennen dürfen. Doch wenn er jetzt in den nächsten Minuten sterben sollte, starb er in dem Wissen, daß Jenny noch in seiner Nähe war und doch nicht merken würde, daß er sein Leben ausgehaucht hatte.
Langsam rutschte er mit dem Rücken die Wand entlang bis er auf dem Stroh saß, auf dem bis vor wenigen Augenblicken Jenny noch gestanden hatte. Stumm starrte er auf das Büschel Stroh in seiner Hand, welches die Dickhäuterin ihm gegeben hatte, und nun immer mehr zu einer gelblichen Masse verschwamm.
Es war so ruhig im Elefantenhaus, daß er seinen eigenen Atem und sein Herz schlagen hörte. Jenny, für ihn das liebste Wesen auf der Welt, war der letzte Elefant, der das Haus verlassen hatte. Nun erinnerte nur noch der Geruch daran, daß sich hier einmal Elefanten aufgehalten hatten. Doch selbst dieser würde mit der Zeit verfliegen bis nur noch die eigene Erinnerung davon erzählen konnte, daß hier einmal Dickhäuter gewesen waren. Die furchtbare Stille durchbrach das Trompeten eines Elefanten – Jennys Abschiedsgruß.
Da gab es für Pascal kein Halten mehr und er ließ den Tränen freien Lauf. Er weinte wie ein kleines Kind, das seinen Freund verloren hatte, und fühlte sich hundeelend.
Reglos saß er so da und die Tränen rannen in kleinen Sturzbächen über sein Gesicht und durchnässten sein Hemd. Er weinte, wie er noch nie geweint hatte, als würde all das Elend aus ihm hinausfließen. Nicht einmal beim Tod seines Vaters oder dem seiner Schwester Klara hatte er auch nur eine einzige Träne vergossen. Er hatte sich unendlich traurig gefühlt, doch seine Augen waren trocken geblieben, so sehr er sich auf gewünscht hatte, weinen zu können.
Jenny war im Laufe der Jahre ein Teil seines Lebens und seiner Seele geworden. Wie ein Familienmitglied war sie für ihn gewesen, obwohl sie doch nur ein Elefant war, wie er sich immer wieder gesagt hatte. Doch sie war klug und verständnisvoll gewesen. Sie beide hatten sich auch ohne Worte verstanden, und als es ihm schlecht ging, war Jenny da gewesen und hatte ihm Trost gespendet. Die Elefantenkuh hatte besser als er selbst verstanden, wie es ihm ging und immer gewußt ihn aufzuheitern. Damit war es nun vorbei. Nun hatte er auch Jenny verloren.
Pascal dachte an seinen Vater, an Johann, Klara und an Masut. All die Toten, die er gern gehabt hatte und denen er in einigen Jahren folgen würde. Jenny würde ihn um viele Jahre überleben und sich noch an ihn erinnern, wenn seine Knochen längst unter der Erde vermoderten.
Er sollte so nicht denken, doch welche Zukunft hatte er noch? Der Tierpark war mangels Tieren geschlossen, eine Arbeit hatte er nicht mehr. Ja, er könnte sein Medizinstudium wieder aufnehmen und abschließen, an Geld mangelte es ihm Dank Masuts Anteilen an der Firma Mellinghoff nicht. Doch mit der Verletzung, die er aus dem großen Krieg mitgebracht hatte, könnte er kaum etwas leisten. Jegliche Anstrengungen waren ihm verboten, zu groß die Gefahr, daß der Splitter zum Herzen oder zur Lunge wanderte.
Er war dazu verdammt auf den Tod zu warten! Doch bis dahin wollte er für seinen Neffen noch die Lebensgeschichte seiner Vorfahren aufschreiben – und ihm vor allem mitteilen, welches Geheimnis das Blut seiner Vorväter barg. Doch vor allem mußte er ihm das Versteck der Rollen des Seth vorenthalten, um dessen Leben zu schützen. Nur ein kluger Kopf sollte das Rätsel lösen können, wo sich der Krug und das Amulett befanden. So lange sie unentdeckt blieben, konnte seine Familie in Ruhe leben und brauchte sich nicht vor den Mitgliedern des Wahren Horus fürchten.
Die Tränen waren versiegt. Pascal suchte in seinen Hosentaschen nach seinem Taschentuch, doch es war verschwunden. – Dabei hatte er es doch heute Morgen eingesteckt. – Stattdessen fand er einen anderen Gegenstand, der uneben, spitz, aber zugleich glatt war. Er wußte nicht, was es sein sollte, doch als er es aus der Tasche zog, erkannte er, daß es sich um einen Elefantenzahn handelte. Jenny mußte er bei einem Zahnwechsel ausgefallen sein und versteckt haben. Sie mußte sich entschlossen haben, ihn Pascal zu schenken, denn der Zahn würde die Zeit länger überdauern, als ein Büschel Stroh. Der ehemalige Tierpfleger, denn mit dem Abschied der Elefantenkuh hatte sein Arbeitsverhältnis geendet, betrachtete den quaderförmigen Zahn, der von tiefen Rillen durchzogen war. Es war das Kauwerkzeug eines Pflanzenfressers. Nur konnte er sich keinen Reim darauf machen, wie der Zahn unbemerkt in seine Tasche gekommen war. Jenny mußte ihm den Gegenstand zugeschoben haben, als sie in seinen Taschen nach Futter gesucht hatte. Bei der Gelegenheit mußte sie ihm auch sein Taschentuch entwendet haben.
„Was für eine kluge, freche Socke du doch bist!“, sagte er und erneut kamen ihm die Tränen.

14. Kapitel

Als Masut seinen Schlafraum aufsuchte, nahm er einen fremden Geruch wahr. Sein Blick irrte durch den Raum bis er an etwas haften blieb. Erschrocken zog er die Luft laut ein. Das Tuch, welches die beiden Gegenstände verhüllte, lag anders gefaltet da. Die linke Ecke lag zu oberst, obwohl der junge Ägypter sie kunstvoll um den Hals des Kruges gelegt hatte.
Jemand war hier gewesen, jemand, der gezielt nach den Gegenständen gesucht und sie natürlich auch entdeckt hatte. Masut hatte sich sicher gefühlt und es nicht für nötig befunden, die Gegenstände zu verstecken. Dies hatte sich nun geändert.
Doch wo sollte er ein passendes Versteck finden? Er kannte nur das Beduinendorf, hatte einmal den Tierpark gesehen und diese wundervollen Kunststeine. Die Felsenbauten, groß und imposant, waren sie nicht das ideale Versteck? Konnten sie als Versteck dienen? Gab es einen besseren Ort als diesen? Doch wie sollte er dorthin noch einmal gelangen? Er kam hier nicht raus aus dem Dorf. Einzig Johann konnte es ohne Probleme verlassen und sich frei im Tierpark bewegen. Doch sollte er Johann in sein Geheimnis einweihen? Sollte er ihn den Gefahren aussetzen, in denen er nun schwebte? Er hatte so vorsichtig gehandelt, während der ganzen Fahrt auf dem Schiff über den Krug gewacht, ihn bei seiner Abreise so verpackt, als würde er einen Haufen an Kleidung und Sandalen mitnehmen. All die Vorsichtsmaßnahmen hatte er sorgfältig ausgeführt. Und als er sich in Sicherheit gewogen hatte, hatte er es nicht mehr für nötig gehalten, die Gegenstände sorgfältig zu verstecken, sondern hatte sie nur in eine Ecke seines Schlafraumes gestellt.
Das war ein Fehler gewesen, wie sich herausgestellt hatte. Nun war man hinter ihm her. Er mußte die Augen offen halten, wenn er die nächsten Monate weiterleben wollte.
Ein Lufthauch strich an seiner Wange vorbei. Reglos blieb er stehen.
Jemand war in den Raum getreten. Vielleicht derjenige, der nach dem Krug gesucht hatte? Er wußte es nicht. Traute sich auch nicht, sich umzudrehen. Lieber würde er warten bis der Feind zuschlug. Dann wäre es vorbei.
„Ich habe dich schon gesucht“, sagte eine ihm vertraute Stimme.
„Johann!“, sagte Masut sichtlich erleichtert und fiel aus seiner Starre. Alle Last fiel von ihm ab. „Was machst du? Warst du schon mal hier?“
„Ich habe dich gesucht, aber ich hatte hier noch nicht geschaut. Ich wollte dir sagen, daß ich das Beduinendorf verlassen werde. Pascal und seine Schwester werden mich zur Schule schicken.“
„Schule?“ Masut verstand nicht, was Johann ihm sagen sollte. „Muß ich da auch hin?“
„Weiß ich nicht. Wenn du nicht lesen und schreiben kannst, solltest du auch eine Schule besuchen.“
„Ich kann meinen Namen schreiben und die Bibel kann ich auch lesen. Reicht das?“
Johann lachte.
„Für dich wird es reichen, für mich nicht.“
„Kommst du dann nicht mehr?“ Masut fühlte sich auf einmal allein, fremd an diesem Ort, der nun seit Wochen schon sein Zuhause war.
„Natürlich werde ich kommen. Nur weil ich jetzt wieder zur Schule gehe und nicht mehr hier lebe, vergesse ich dich nicht. Du bist doch mein bester Freund.“
„Gehst du heute?“
„Ja, ich werde meine Sachen zusammenpacken und dann für einige Wochen bei Pascal und seiner Schwester leben bis ich dann meinem Großvater vorgestellt werde. Wenn er mich denn kennen lernen möchte.“ Johann hatte seinen Kopf gesenkt. Unsicher, zaghaft und kaum hörbar war der letzte Satz über seine Lippen gekommen. Er wußte nicht, wie sein Großvater die Nachricht auffassen würde, daß er einen Enkel habe.
Bis vor einigen Tagen hatte er nicht einmal gewußt, daß er überhaupt noch irgendwelche anderen Verwandte hatte als die Schwester seiner Mutter, die ihn wie ein Stück Vieh verkaufte, um ihn los zu sein.
Er hatte nicht gewußt, daß er einen Großvater hatte. Seine Eltern hatten nie von ihm erzählt. Nur einmal, da hatte er eine Fotografie gefunden, die er stolz seiner Mutter gezeigt hatte. Die Fotografie zeigte einen älteren Mann mit strengem Blick, aber liebevollen Augen. Und neben diesem Mann stand sein Vater. Die Mutter hatte ihm sofort die Fotografie weggenommen und ihn gescholten. Doch ihre Augen hatten etwas Trauriges angenommen, so daß Johann nicht weiter fragen wollte. Er hatte sie später noch einmal fragen wollen, wenn er älter war, doch dies war ihm nicht mehr vergönnt gewesen. Kurze Zeit später waren seine Eltern tot gewesen. Die Fotografie hatte er nie wieder gesehen. Vielleicht hatte seine Mutter sie vernichtet.
In den letzten Tagen fragte er sich immer wieder, warum er nicht zu seinem Großvater gekommen war. Hatte dieser ihn nicht haben wollen? Wenn dies tatsächlich so gewesen war, würde er ihn jetzt auch nicht haben wollen. Warum sollte er auf einmal sentimental werden und seinen Enkel jetzt doch im Haus aufnehmen? Wenn er Pech hatte müßte er wieder zu seiner Tante zurückkehren. Nein, das wollte er auf keinen Fall. Da würde er sich wieder als Beduine verkleiden und wenn er es bis zum Ende seines Lebens tun mußte. Dann hatte das Schicksal es so gewollt.
„Viel hast du nicht, daß du mitnehmen kannst.“
Masut erinnerte sich an das kleine Bündel, das sein Freund vom Schiff mitgenommen hatte.
„Soll ich von dir was mitnehmen? Den Beutel da vorne, den ich schon vor Wochen gerettet habe?“ Johann deutete auf den Krug, verborgen in einem fein gewebten Wolltuch.
Der Ägypter blickte den blonden Jungen an und sah dann auf den Krug, an dem auch das Amulett des Todes hing.
Das ihm nicht gleich die Idee gekommen war, als Johann davon sprach, das Beduinendorf zu verlassen. Er wäre die Last los und müßte sich erstmals keine Sorgen machen, wo er die Gegenstände des Verderbens unterbringen sollte, damit sie sicher waren. Doch wollte er Johann die verfluchten Gegenstände wirklich übergeben? War das Risiko nicht zu groß? Wollte er seinen Freund wirklich in Gefahr bringen, um selbst der Bedrohung zu entkommen? Johann kannte das Risiko nicht, das er eingehen würde, wenn er die Gegenstände mitnähme.
Es war nicht rechtens, was er tat, doch er mußte es tun. Für einige Wochen würde die Gefahr, die über ihm schwebte, gebannt sein. Innerhalb dieses Zeitraums mußte er sich ein passendes Versteck suchen, wo die verfluchten Gegenstände für längere Zeit, vielleicht sogar für immer, verbleiben konnten. Bis dahin waren sie bei Johann sicher. Doch die Gefahr würde nicht gebannt sein. Solange die Gegenstände existierten, war sie immer da und schwebte über ihnen.
„Kannst du das dort mitnehmen?“ Masut deutete auf den verhüllten Krug. „Er stört mich hier und ich habe Sorge, daß jemand ihn stehlen könnte.“
„Ach, deshalb wolltest du wissen, ob ich bei dir war. Klar kann ich das mitnehmen. Es ist bloß so schwer.“
Johann wollte wissen, was sich unter dem Wolltuch verbarg. Schon vor einigen Wochen hatte er es erfahren wollen, doch Masut hatte ihn vertröstet. Nun war anscheinend die Zeit gekommen, wo er ihm sagen mußte, welche Gegenstände sich unter dem Tuch befanden.
Johann selbst hatte nur Vermutungen anstellen können. Der Gegenstand hatte eine unebene Oberfläche gehabt, war in der Mitte dickbauchig und hatte einen Sockel. Der Gegenstand ließ sich auf den Boden stellen, so wie er nun stand, aber was war es? Seine Fantasie hatte nicht ausgereicht, um sich irgendwelche Gegenstände auszumalen, die dieser Form gerecht würden.
„Komm her, ich zeige dir, was du mitnehmen sollst. Aber sag nichts, Schau es dir nur an und nicht anfassen.“
Johann machte große Augen. Was nur mochte so geheimnisvoll und gefährlich zugleich sein? Befand sich eine Schlange in dem Gefäß? Ja, denn ein Gefäß mußte es sein, aber was es verbarg, konnte er sich nicht vorstellen. Es mußte gefährlich sein, schließlich durfte er es nicht anfassen. Vielleicht doch eine Schlange – eine Kobra. Noch nie im Leben hatte er eine Kobra gesehen, aber aus Erzählungen seines Vaters wußte er, daß diese Schlangen zu Flötenmusik sich bewegten. War Masut in Wirklichkeit ein Schlangenbeschwörer? Warum hatte er sich nicht dafür gemeldet, sondern arbeitete in der Glasbläserei? Er hielt die Spannung nicht mehr aus.
Vielleicht handelte es sich aber auch um ein vergiftetes Buch. Nein, welch absurder Gedanke, dafür war der Gegenstand zu rund gewesen. Wie eine Vase, genau das mußte es sein. Aber konnte eine Vase eine rauhe, unebene Oberfläche haben? Und dazu hatte es doch auch geklappert. Als er es bewegt hatte, klapperte irgendwas, daran erinnerte er sich genau. Konnte es eine Waffe sein, die Masut eingeschmuggelt hatte? Aufgeregt verfolgte Johann mit den Augen, wie sein ägyptischer Freund das Wolltuch von dem geheimnisvollen Gegenstand zog. Noch bevor er einen Blick auf den Gegenstand werfen konnte, wurde er von Masut herangewunken bis er direkt vor dem Gegenstand zum Stehen kam. Voller Vorfreude malte er sich die fantasievollsten Waffen aus, die er sich vorstellen konnte. Doch wie groß war seine Enttäuschung, als Masut den Blick freigab und eine Vase, womöglich ein Krug, zum Vorschein kam.
Wegen so einem ollen Krug hatte sein Freund so ein Geheimnis gemacht? Wegen einer langweiligen Tonvase, die vielleicht ungewöhnlich verziert war, aber nicht erklärte, warum sie Masut so wichtig war.
Johann sah etwas blinken und der Ägypter holte mit seiner Hand eine Kette aus dem Tuch hervor. Fasziniert bückte sich Johann und streckte die Hand aus, doch dann erinnerte er sich an Masuts Warnung und zog sie schnell wieder zurück.
„Die darfst du nie anfassen und schon gar nicht umhängen. Versprich es, Johann.“ Der blonde Junge verstand zwar nicht, warum er die Kette nicht anfassen durfte, doch um Masut zu beruhigen, nickte er. „Gut, ich kann dir jetzt nicht sagen, was es mit den beiden Dingen auf sich hat. Wenn ich ein passendes Versteck dafür gefunden habe, werde ich es dir sagen. Jetzt ist es gut, wenn du die Geschichte noch nicht kennst.“
Johann betrachtete die Kette, die Masut noch immer in den Händen hielt.
Rote, weiße und blaue Steine wechselten sich ab. Kleine Ringe, die aufgefädelt worden waren und in einem größeren Amulett endeten. Das Amulett schien nur aus Gold zu bestehen, wie auch die Fäden, die durch die farbigen Steinringe beinahe verdeckt waren. Irgendwie kam Johann das Edelmetall seltsam vor. Es glänzte mehr silbern als golden. Silber schien es aber auch nicht zu sein. Gab es ein Metall, daß aus einer Mischung aus Gold und Silber bestand?
Erneut wollte der blonde Junge es berühren, doch bevor er seine Hände ausgestreckt hatte, steckte Masut es in die Hüllen des Tuches zurück und auch die Vase verschwand darin.
„Du wirst ein gutes Versteck dafür finden müssen. Niemand darf das in die Hände anderer gelangen. Hörst du?“
Johann nickte, auch wenn er Masuts Drängen nicht verstand. Er würde es verstecken und dann erfahren, was es mit den beiden Gegenständen auf sich hatte. Doch wo sollte er die Vase und die Kette verstecken? Vielleicht würde sich eine Gelegenheit bieten, wenn er den Tierpark verlassen hatte. Masut hätte gewiß bereits ein passendes Versteck gefunden, wenn er die Gegenstände in seiner Nähe hätte haben wollen. Doch sie sollten irgendwo versteckt werden, wo sie nicht mit dem Ägypter in Zusammenhang gebracht werden konnten. Er – Johann – war zwar noch jung, aber er durchschaute, was sein Freund bezweckte. So glaubte er jedenfalls, daß er Masut verstand. Den Sinn des Ganzen konnte er aber nicht nachvollziehen.
„Darf ich Pascal einweihen, damit er mir hilft? Er kennt sich besser hier aus und weiß gewiß auch, wo sich so was verstecken läßt.“
„Nein!“, sagte der junge Ägypter barsch. Es konnte nicht noch jemand in dieses Geheimnis eingeweiht werden. Johann war schon eine Person zuviel. Er wollte nicht noch ein weiteres Leben gefährden. Selbst seinem Freund hätte er nicht die verfluchten Gegenstände zeigen dürfen. Und doch hatte er es getan, weil er keinen anderen Ausweg mehr sah.
„Warum denn nicht? Ich kann verstehen, wenn du mir nicht sagen willst, warum du so ein Geheimnis um beide Gegenstände machst. Aber ich muß Pascal doch erklären, was ich da mitnehme. Ich kann doch nicht sagen, daß ich es nicht weiß.“
Der blonde Junge hatte wahrlich Geduld mit seinem ägyptischen Freund gehabt, doch er konnte diese Geheimniskrämerei nicht länger ertragen. Vor Pascal brauchte Masut sich nicht zu fürchten. Noch durchschaute Johann ihn zwar nicht, aber er wußte, daß er dem jungen Tierpfleger vertrauen konnte.
„Ich kann es dir jetzt nicht erklären. Nimm die Sachen mit, wie ich dich bat.“
„Gut, aber wenn sich herausstellt, daß es Schmuggelware ist, habe ich damit nichts zu tun.“
Masut schüttelte den Kopf. Es hatte es zwar ins Land geschmuggelt, aber es war das Eigentum seiner Familie.
„Das gehört meiner Familie, seit vielen Zeiten.“
Mißtrauisch musterte ihn Johann. Masut entging dieser Blick nicht. Sollte sein Freund denken, was er wollte. Er würde so lange schweigen, wie es ihm möglich war. Niemand durfte unnötig in das Geheimnis eingeweiht und so in Gefahr gebracht werden. Wer auch immer in sein Zimmer eingedrungen war, kannte den Ort des Krugs und der Kette. Vielleicht war es Zufall gewesen und der unbekannte Eindringling hatte nicht bewußt danach gesucht, sondern war einfach neugierig gewesen, was sich unter dem Tuch verbarg. Doch dieser Unbekannte konnte reden und es möglicherweise demjenigen erzählen, vor dem er nach Europa geflohen war. Dieses Risiko durfte er nicht eingehen. Krug und Kette mußten verschwinden. Und wenn Johann zuviele Fragen stellen würde, müßte er sich eben selbst darum kümmern. Aber diese Gegenstände des Bösen mußten verschwinden, unter welchen Umständen auch immer.

13. Kapitel

Masut hatte es kommen sehen. Eines Tages wäre Johann erwischt worden und das Versteckspiel aufgeflogen. Nun war es geschehen, doch anstelle von Konsequenzen, behielt Pascal das Geheimnis für sich. Pascal war der Name des jungen Tierpflegers, der Johanns Maskerade aufgedeckt hatte. Allerdings bestand er darauf, daß Masuts Freund das Versteckspiel beendete. Was er anstelle dessen tun sollte, hatte Pascal nicht gesagt, nur daß er sich kümmern wolle. Wie das aussehen sollte, wußte Masut nicht und konnte es sich auch nicht vorstellen.
Er sah auf, als er Schritte kommen hörte. Johann trug wieder das Gewand eines Ägypters, doch hatte er sein Gesicht, seine Hände und auch seine Füße nicht mit Erde geschwärzt. Froh war er, daß das Versteckspiel endlich zu Ende war, auch Masut dachte so, denn er war nicht mehr so gereizt wie in den letzten Tagen.
Der blonde Junge in dem weißen Gewand saß vor der Hütte der Glasbläser und bot die fertig gestellten Produkte zum Verkauf an. Irritiert gingen Besucher an ihm vorbei und fragten sich, ob es sich bei ihm um einen Ägypter handle. Johann klärte sie nicht auf, sondern schmunzelte über diese Menschen, die ihn für einen Ägypter hielten und dennoch nicht sicher waren, ob er einer war. Wenn er gefragt worden wäre, hätte er ihnen geantwortet, daß er kein Ägypter sei, sondern sich so für den Verkauf der Waren angezogen hätte. Allerdings wagte niemand ihn zu fragen, weshalb er stumm blieb. Vielleicht hielten sie ihn wirklich für einen Ägypter und stellten ihm deshalb keine Frage, weil sie glaubten, er könne sie nicht verstehen, da er ihre Sprache nicht beherrsche.
Der Verkauf ging nur schleppend voran, was den blonden Jungen nicht weiter störte. Beobachtete er eben die Besucher, das Geschehen im Dorf und lauschte dem Lärm der Tiere.
Johann hörte Stimmen näher kommen. Eine konnte er als die von Pascal identifizieren, aber die zweite, die einer Frau gehörte, kannte er nicht.
„Da haben wir ihn schon, unseren falschen Ägypter!“
Der gerade Angesprochene blickte hoch und mußte blinzeln, da er direkt in die Sonne sah. Doch dann erblickte er das Gesicht einer jungen Frau, die so alt sein mußte wie Pascal. Sie trug ein langes hellblaues Kleid mit kurzen Ärmeln. Passend dazu hatte sie einen Sonnenschirm in der gleichen Farbe und einen Strohhut auf dem blonden Haar, der ein blaues Band hatte. Das Band war zu einer Schleife geknotet und die langen Enden hingen über die Hutkrempe und hatten sich mit dem strohblondem Haar, das ein wenig dunkler als das von Pascal war, vermengt.
„Du bist also Johann. Mein Bruder redet seit Tagen ohne Unterlaß von dir. Er scheint große Stücke auf dich zu halten.!
Johann merkte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. In diesem Augenblick hätte er sich gewünscht, sein Gesicht geschwärzt zu haben. Ihm war es peinlich, daß jemand ihn lobte, vor allem wenn er ihn kaum oder gar nicht kannte.
„Das hätte ich wohl nicht sagen sollen. Deinem jungen Freund ist es offensichtlich peinlich,Pascal.“
„Was mußt du auch gleich mit der Tür ins Haus fallen? Du bist und bleibst ein Plappermaul, Klara.“
„Werd‘ nicht frech!! Ich bin die ältere von uns beiden.“
„Deshalb darfst du auch repräsentieren, während ich schuften muß.“
„Wer wollte denn Medizin studieren? Du hättest Vaters Firma sofort übernehmen können.“
„Ich verstehe nichts vom Geschäft. Das ist mir immer fremd gewesen, zum Leidwesen unseres Vaters.“
„Ach Vater, Gott hab‘ ihn selig.“ Klara, Pascals Schwester, wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel.
„Mein Vater ist auch tot“, fuhr Johann dazwischen. Bis jetzt hatte er stumm neben den Geschwistern gesessen und ihnen teilnahmslos zugehört. Die beiden mochten sich gern, neckten sich, doch nicht auf beleidigende Art und Weise. Der falsche Ägypter hatte sich immer Geschwister gewünscht, doch war er ein Einzelkind geblieben. Dann waren seine Eltern gestorben und er zu seiner ungeliebten Tante gekommen, von deren Existenz er bis dahin nichts gewußt hatte. Deren Söhne hatte er wahrlich nicht als Geschwister bezeichnen können. Sie hatten ihm mehr als einmal üble Streiche gespielt.
„Armer Junge, bist du deshalb Schiffsjunge geworden, um Geld für deine Mutter und deine Geschwister zu verdienen?“
Klara hatte sich zu ihm herunter gebeugt und wischte ihm die Tränen aus dem Gesicht.
„Meine Mutter ist auch tot und Geschwister habe ich keine.“
„Dann bist du ja ganz allein. Hast du keine Verwandten mehr?“
Johann senkte den Kopf. Wenn er von seiner Tante sprechen würde, müßte er sicherlich zu ihr zurück und das wollte er auf keinen Fall. Also blieb sein Mund verschlossen.
„Hast du wirklich niemanden mehr?“, hakte Pascal nach, dem nicht entgangen war, daß Johann die Frage unangenehm gewesen war und er nicht antworten wollte.
Der blonde Junge drehte seinen Kopf weg. Er wollte die Frage nicht beantworten. Unter allen Umständen wollte er schweigen, egal was käme.
„Sag mir die Wahrheit, Johann, sonst muß ich dich melden“, drängte Pascal.
Klara warf ihren Bruder einen bösen Blick zu. Wie konnte er den Jungen so ängstigen? Was sollte dieser von Pascal denken? Daß dessen Freundschaft nur geheuchelt war?
„Wie kannst du ihm solch eine Angst einjagen? Sieh nur, wie verstört er ist. Schäm‘ dich, Monsieur Justine!“
Nun war Vorsicht geboten. Wenn Klara ihn mit ‚Monsieur Justine‘ anredete, war sie wütend auf ihn. Dann konnte jedes falsch gewählte Wort dafür sorgen, daß sie in den nächsten Tagen kein Wort mehr mit ihm reden würde.
„Es tut mir leid, Johann, aber ich will dir doch nur helfen.“
Der kleine Bursche hatte den Kopf wegedreht und schluchzte leise. Pascal hatte sich als sein Freund ausgegeben, dabei wollte er ihn nur loswerden, genauso wie seine Tante. Die Menschen waren alle gleich.
„Johann, ich rede mit dir. Sieh mich an!“
Doch der blonde Junge reagierte nicht.
„Da siehst du es. Er hat das Vertrauen in dich verloren. Kein Wunder, wie du dich benommen hast. Wie ein Elefant im Porzellanladen. Am Ende gibt es nur Scherben.“
„Elefanten sind vorsichtiger als du denkst. Nehmen wir einmal Bertha, die ist sehr feinfühlig und…“
Barsch unterbrach Klara ihren Bruder.
„Oh ja, feinfühlig, im Gegensatz zu dir. Du hast die Feinfühligkeit mit Löffeln gefressen, die so löchrig waren wie ein Sieb.“
„Jetzt ist es aber genug!“, sagte Pascal lauter, als er es beabsichtigt hatte.
Klara verstummte, doch ihr Blick mit dem sie ihren Bruder bedachte, hätte töten können.
„Johann, sieh mich an.“ Doch der blonde Junge schüttelte den Kopf. Die Arme hatte er verschränkt, um seine Position zu verdeutlichen. „Du bist ein sturer Bursche.“ Pascal faßte Johanns Kinn und drehte dessen Kopf zu sich. Ein verweintes Gesicht, aus dessen Nase der Rotz lief, sah ihn an. „Es tut mir leid, aber ich will dir nur helfen“, sagte er freundlich.
Eilig ging Klara dazwischen, um das Vertrauen des Jungen zu gewinnen. Er hatte doch niemanden außer ihnen beiden. Und wenn er jetzt nicht mit der Wahrheit herausrücken wollte, würde er es vielleicht später tun. Mit der Zeit würde er genug Vertrauen besitzen, um sich zu öffnen. Aber ihr Bruder versuchte es mal wieder mit der Hau-Drauf-Taktik. Doch damit würde er nichts erreichen.
„Pascal wird nichts sagen und ich auch nicht, selbst wenn du noch Verwandte haben solltest. Du wirst schon deine Gründe haben, warum du von ihnen weg bist.“
Klara reichte Johann ihr Taschentuch, das nach Veilchen roch. Dankbar nahm er es.
„Eine Tante, aber ich will nicht zu ihr zurück. Lieber laufe ich weg!“
„Schon gut, wir werden nichts sagen, nicht wahr, Pascal?“
Sie stieß ihren Bruder an, als dieser nicht gleich antwortete.
„Ja, wir schweigen wie ein Grab. Ehrenworz. Doch hier kannst du nicht bleiben. Du mußte zur Schule gehen und einen Beruf erlernen oder willst du wieder als Schiffsjunge zur See fahren?“ Johann schüttelte energisch den Kopf. Das wollte er überhaupt nicht. Er hasste die Seefahrerei, das Wasser, das Meer, dieses ewige Schaukeln. Und dann war da die Gefahr, daß etwas passieren könnte, die Angst, daß das Schiff unterging wie die Titanic. „Na siehst du, aber um dich zur Schule schicken zu können, brauchen wir deinen vollständigen Namen.“
Johann sah abwechselnd zu Pascal und dessen Schwester Klara. Was sollte noch geschehen? Er konnte seinen Namen sagen und würde in ein Waisenhaus kommen, von dort ging es wieder zu seiner Tante, zu der er nicht wollte. Oder Pascal und Klara würden ihm wirklich helfen und ihn bei sich behalten. Aber konnte er ihnen trauen? Er wußte es nicht und zögerte. Er überwand sich erst, seinen Nachnamen zu nennen, als Klara ihm aufmunternd zunickte. Zu ihr hatte er Vertrauen gefaßt. Sie meinte es ehrlich.
„Mellinghaus, Johann Mellinghaus.“ Kaum hatte er seinen Namen gesagt, wechselten Bruder und Schwester einen Blick. Es war ein mißtrauisch und zugleich überraschter Blick, als würden sie den Namen kennen. „Habe ich was Falsches gesagt?“, fragte er besorgt.
„Du heißt wirklich Mellinghaus?“ Pascal klang mißtrauisch.
Johann nickte.
„Einer unserer Geschäftspartner heißt doch Mellinghaus. Erinnere dich, Klara, er hat uns geholfen, als Vater gestorben war.“
„Richtig, Georg Anton Mellinghaus, genannte der „kalte Scheffler.“
„So heiße ich auch. Nicht Scheffler, aber mein vollständiger Name ist Johann Georg Anton Mellinghaus.“
Verwirrt starrten Pascal und Klara den blonden Jungen an. Sie konnten nicht glauben, was sie gehört hatten. Der junge Tierpfleger war der erste, der sich halbwegs faßte und seine Sprache wiederfand.
„Das kann nicht sein!“ Pascal wollte nicht glauben, daß der alte Mellinghaus einen weiteren Verwandten hatte. Seitdem sein Sohn verschwunden war, hatte er keinen Nachfolger mehr, was ihn nicht davon abhielt, sein Geschäft auszubauen und sein Vermögen zu vergrößern. „Wie hieß dein Vater? Etwa Richard Mellinghaus?“
Johanns Augen weiteten sich vor Erstaunen. Das war das erste Mal, daß jemand seinen Vater namentlich kannte. „Ja, genau! Kanntest du ihn?“ Er machte sich Hoffnungen jemanden getroffen zu haben, der ihm mehr von seinem Vater erzählen konnte. Er hatte kaum noch Erinnerungen an ihn. Es war so lange her, daß sein Vater gestorben war.
„Persönlich nicht, aber ich kenne seinen Vater, deinen … Großvater.“ Nun war das Wort raus, doch anstatt das sich Johann freute, trübte sich sein Gesicht.
„Hör auf mich zu ärgern. Ich habe keinen Großvater, warum bin ich nicht zu ihm gekommen, sondern zur Schwester meiner Mutter?“
Diese Frage konnten weder Pascal noch Klara beantworten. Entweder war nicht gründlich genug gesucht worden oder der alte Mellinghaus hatte seinen Enkel nicht gewollt, weil er dessen Vater verstoßen hatte.
Es ging das Gerücht, daß der Sohn des alten Mellinghaus die Verbindung mit einer Frau eingegangen war, die dessen Vater nicht vorteilhaft schien. Vater und Sohn hatten sich entzweit und waren eigene Wege gegangen. Danach war von Richard Mellinghaus nie mehr die Rede gewesen. Für seinen Vater war er tot, war es nun auch in Wirklichkeit, doch sein Sohn, der Enkel des alten Mellinghaus, lebte. Das änderte alles. Johann mußte seinem Großvater vorgestellt werden, der seinem Sohn längst verziehen hatte und über seinen damaligen Ausbruch stark verbittert war. Vielleicht konnte er an seinem Enkel das Unrecht wieder gut machen, daß er seinem Sohn angetan hatte. Doch wie sollte man dem alten Mellinghaus beibringen, daß sein Sohn tot war, er aber einen Enkel hatte? Darüber könnten sie sich später Gedanken machen. Nun mußte Johann erst einmal neu eingekleidet werden, bevor er seinem Großvater vorgestellt werden konnte.

12. Kapitel

Staunend stand Johann vor dem Löwen-Gehege. Faul lagen die Raubkatzen in ihrem Gehege und dösten, nur durch einen Wassergraben getrennt von den Besuchern. Wie war es möglich, daß hier die Löwen nicht hinter Gitter waren, wie es im Zoologischen Garten war? Der Zoologische, wie er von den Hamburgern genannt wurde, befand sich in der Nähe des Dammtor-Bahnhofs. Der bekannteste Direktor des zoologischen Tiergartens war Alfred Brehm gewesen, der nach einigen Jahren den Posten wegen Unstimmigkeiten abgegeben hatte. Obwohl dieser Zoo länger bestand als der Tierpark vor den Toren Hamburgs, mußte er geringere Besucherzahlen vorlieb nehmen. Vielleicht lag es an den revolutionären Gehegebauten, die hier in Hagenbecks Tierpark zu betrachten waren. Nicht Gitter trennte die Besucher von den Tieren, sondern Gräben. Sicherlich waren auch die Völkerschauen ein weiterer Grund, weshalb die Besucher strömten.
„Gefallen dir die Löwen?“, fragte jemand in seinem Rücken und legte Johann eine Hand auf die Schulter.
Der blonde Junge zuckte zusammen, erstarrte und hielt die Luft an. Ich bin entdeckt, ging es ihm durch den Kopf.
„So sprachlos, junger Herr?“
Neben Johann tauchte ein um einige Jahre älterer junger Mann auf, der im Tierpark zu arbeiten schien, er trug die typische Kleidung der Tierpfleger.
„Wollte nur gucken“, erwiderte Johann schnell. Seine Stimme zitterte und seine Zunge verhaspelte sich bei den Worten. „Eintrittskarte hab‘ ich verloren.“
„Danach habe ich dich gar nicht gefragt.“ Der junge Mann musterte Johann. „Hast du dich etwa rein geschmuggelt?“
Mit schreckgeweiteten Augen sah er den Tierpfleger an. Durch eine unbedachte Aussage hatte er sich selbst verraten. Alles würde auffliegen. Er müßte zurück aufs Schiff oder schlimmer noch, zurück zu seiner ungeliebten Tante. Hätte er nur geschwiegen! Bevor er weiter nachdachte, rannte er los, so schnell er konnte. Weit kam er nicht. Als er um die Ecke bog, stieß er mit einem Besucher zusammen und fiel hin.
„Paß auf, wo du hinläufst!“, hörte er den älteren Herrn sagen.
Bevor er aufgestanden war, wurde er unsanft am Kragen gepackt.
„So schnell entkommst du mir nicht, Freundchen!“
„Es ist doch nichts geschehen. Er hat nur nicht aufgepaßt, wohin er gelaufen ist.“ Die eben noch erregte Stimme des männlichen Besuchers klang nun sanfter und besorgt.
„Darum geht es nicht.“
Johann wurde am Kragen hochgezogen bis er auf seinen beiden Beinen stand. Dann spürte er einen harten Griff um sein Handgelenk, als würde Eisen es umfassen.
„Hat er was angestellt?“
„Nein, mein Bruder kann nur nicht gehorchen. Und nun gehen Sie weiter. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Aufenthalt in Hagenbecks Tierpark.“
Im Gesicht des Besuchers, mit dem Johann zusammengestoßen war, stieg die Zornesröte hoch. Ohne ein Wort ging er weiter.
Verdutzt sah Johann den Tierpfleger an. Hatte dieser gerade gelogen und ihn als seinen Bruder ausgegeben?
„Bruder? Wieso haben Sie das gesagt?“
„Mir ist auf die Schnelle nichts anderes eingefallen.“
„Wie wäre es mit der Wahrheit gewesen?“
Überraschte blickte der junge Mann Johann an. Mit dieser Frage hatte er nun gar nicht gerechnet. Aber ihn hatten schon ganz andere Dinge in letzter Zeit verwundert.
„Manchmal ist es besser, die Wahrheit nicht auszusprechen. Doch was ist die Wahrheit? Du machst blau und bleibst der Schule fern? Du hast dich hier rein geschmuggelt? Oder du versteckst dich bei den Ägyptern?“ Der Tierpfleger sah Johann an, der seinem Blick auswich und schnell den Kopf senkte. „Was ist denn nun die Wahrheit?“
Das Kinn des blonden Jungen wurde angehoben, daß er seinem Gegenüber direkt ins Gesicht sehen mußte.
„Was wollt ihr von mir?“
„Erst einmal deinen Namen.“
Johann wußte nicht, was er tun sollte. Seinen wahren Namen nennen? Lügen und hoffen, daß der Tierpfleger von ihm ablassen und ihn gehen lassen würde? Er konnte den jungen Mann nur schwer einschätzen.
Er schalt sich selbst einen Narren. Wäre er nur in dem Beduinendorf geblieben. Hätte er seiner Neugier nur nie nachgegeben. Sein Freund hatte Recht gehabt, als er ihn zurückhalten wollte. Doch er wollte nicht mehr länger einen Ägypter spielen, gefangen sein in diesem Schaudorf.
Er wollte Masut nicht enttäuschen, deshalb spielte er das Versteckspiel weiter, doch er wollte nicht mehr. Ewig aufpassen, daß er sich nicht verrät, daß er Gesicht und Hände mit Erde oder Kohle einschmiert. Er war es Leid, wollte es nicht mehr. Und so sagte er seinen Namen, egal welches Risiko sich daraus ergab.
„Johann“, sagte er matt.
„Gut, Johann, dann sag mir, was du hier machst und wie es kommt, daß du dich im Tierpark befindest, ohne daß du eine Eintrittskarte hast. Wie kommt es, daß der Wasserträger der Glasbläser verschwunden bist, während du hier vor mir stehst?“
Johanns Augen weiteten sich vor Erstaunen. Wie konnte es sein, daß dieser junge Tierpfleger wußte, wer er war? Hatte er sich durch irgend etwas verraten?
Verstohlen warf er einen Blick auf seine Hände und konnte keinen schwarzen Fleck erkennen. Vielleicht war in seinem Gesicht etwas zu sehen, doch hatte er es nicht gewissenhaft geprüft, bevor er das Beduinendorf verließ?
„Habe ich dich ertappt? Zugegeben, ich habe es nicht darauf angelegt, dein falsches Spiel herauszufinden. Mein Auftrag war, deinen Freund zu beobachten, ob er nicht doch noch irgendwelche Krankheitssymptome zeigt. Na ja, der scheint mir vollkommen gesund zu sein, aber mit dir schien etwas nicht zustimmen. Ich wußte nie, was es war, bis ich dich vorhin ohne deine Verkleidung gesehen habe.“ Ein kaum wahrnehmbares Lächeln erschien auf dem Gesicht des jungen Tierpflegers, als er daran zurückdachte, wie überrascht er gewesen war, daß sich der kleine unbeholfene Ägypter als blonder Junge entpuppte. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie erstaunt ich war. Ich wollte meinen Augen nicht trauen und fragte mich sogleich, wie du die medizinische Untersuchung hinter dich gebracht hast, ohne erwischt zu werden.“
„Ich habe mich versteckt.“
„Habe ich es mir doch gedacht, kluges Kerlchen. Der Doktor hätte den Schwindel sofort erkannt. Eines muß man dir lassen, du bist wirklich gewitzt.“
Johann wußte nicht, ob er dies als Kompliment verstehen sollte. Noch immer konnte er den jungen Tierpfleger nicht einschätzen. Anstatt ihn sofort zu melden, redete er mit ihm. Er fragte nicht einmal, wo er herkam. Stattdessen sprach er mit ihm, als sei er kein Dienstbote, sondern ein normaler Junge. Es war ewig her, daß Johann so zuvorkommend behandelt worden war. Damals hatte seine Mutter noch gelebt.
„Gehen wir zu deinem Freund. Auf dem Weg dorthin erzählst du mir, woher du kommst und wie es dazu kam, daß du als falscher Ägypter bei der Völkerschau gelandet bist.“
Johann verdrehte die Augen.
Das war genau das gewesen, was er eigentlich nicht tun wollte. Er wollte nicht zurück zu seiner ungeliebten Tante und deren Söhnen. Sie hatte ihn als billige Arbeitskraft verkauft. Genau das würde sie wieder tun, wenn er zu ihr zurückkehren mußte.