Vier Wochen Schreiben – Tag 21

Heutiges Thema: Hat dich während deines Schreibprozesses eine Szene besonders berührt?
Ja, eindeutig. Ich weiß noch, wie ich damals irgendwo draußen saß und dieses Kapitel zu Papier brachte. Anfangs schossen mir die Tränen nur in die Augen, später liefen sie mir aber die Wangen hinunter. Ich war immer nur am Wischen, am Schreiben und wieder am Wischen. Zum Glück ist niemand vorbeigekommen und hat mich gefragt, ob alles in Ordnung sei. Was hätte ich darauf antworten sollen? Mir geht es gut, ich schreibe nur gerade eine Abschiedsszene und muss deshalb so heulen. Hätte ich das antworten sollen? Natürlich hätte ich das tun können, aber ob mein Gegenüber mir das abgenommen hätte, bleibt fraglich.
Bei dieser Szene, die ich damals geschrieben habe, weine ich heute noch. Ich kann einfach nichts dagegen tun. Mir kommen einfach die Tränen. Vielleicht hängt das heute auch eher damit zusammen, dass dieses Kapitel real geworden ist.
In dem Kapitel geht es darum, dass jemand von seinem Lieblingselefanten Abschied nehmen muss. Wer DIE ROLLEN DES SETH kennt, wird wissen, welchen Elefanten und welches Kapitel ich meine (Kapitel HIER nachlesen). In dem Kapitel muss Pascal von seiner Elefantin Berta Abschied nehmen. Wer das Nachwort kennt (HIER nachzulesen), wird wissen, dass auch ich einen Elefanten habe, der mir viel bedeutet und von der ich ebenfalls auf eine ähnliche Art und Weise Abschied nehmen musste.
Manche mögen nun denken, dass ich das Kapitel geschrieben habe, nachdem Mala nach Belgien umgezogen ist. Das stimmt nicht. Geschrieben habe ich das Kapitel fast auf den Tag genau ein Jahr, bevor Mala gehen musste. Es wurde Anfang Juli 2011 geschrieben, während Mala Anfang Juli 2012 umzog. Beides hat nichts miteinander zu tun. Es ist nur ein Zufall gewesen, wenn auch ein merkwürdiger. Wobei Mala schon seit 2008 nicht mehr sicher war, seitdem es Überlegungen gab, einen neuen Zuchtbullen zu holen, aber irgendwie hatte man gehofft, dass sie doch würde bleiben können. Und dann war sie plötzlich weg und es tat sich eine Lücke auf, die in den fast fünf Jahren nicht gefüllt werden konnte.
Als ich das besagte Kapitel überarbeitete, war Mala noch da gewesen, dennoch kamen wir auch da erneut die Tränen. So ergeht es mir immer noch. Ich muss dieses Kapitel nur lesen und schon brauche ich ein Taschentuch, um die Tränen wegzuwischen.
(Helen Dalibor)

P.S.: Nicht wundern, wenn in dem Kapitel der Elefant noch Jenny heißt. So sollte Berta zu Beginn heißen, ich habe mich allerdings später entschieden, dass sie einen anderen Namen bekommen soll.

Abschiedsszene

Stellingen, 02. Oktober 1920
„Mach’s gut, Jenny. Das wird heute das letzte Mal sein, daß wir uns sehen. Wenn es nach mir gehen würde, bliebest du hier. Doch wie sollte ich dir deine tägliche Futterration beschaffen? Und woher den Platz nehmen?“ Gedankenverloren strich Pascal über den rauen Rüssel. „Nein, es wird das beste sein, wenn du gehst. Auch wenn ich dich nur schweren Herzens ziehen lasse, doch ich muß dein Wohl im Auge haben.“
Jenny rüsselte an seinem Hals und bließ ihm warme Luft ins Gesicht.
Ob sie spürte, daß sie sich heute zum letzten Mal sahen? Ja, er glaubte, daß Jenny wußte, warum er noch einmal gekommen war. An ihren Augen konnte er erkennen, daß sie begriff, warum er noch einmal mit ihr sprach. Er war gekommen, um endgültig Abschied von der Elefantenkuh zu nehmen. Ihre klugen, wachen Augen blickten traurig und sie weinte. Die Haut drum herum hatte sich von ihren Tränen dunkel verfärbt.
„Ich weiß, daß es für dich nicht leicht werden wird. Erst mußt du deine Heimat und deine Bezugspersonen verlassen und dann wartet auch noch eine fremde Sprache auf dich.“ Jenny verstand nur Deutsch, weshalb sie zweimal zurückgeschickt worden war. Erst nachdem sie zum wiederholten Male in den Tierpark zurückgekehrt war, kam Pascal dahinter, daß sie Verständigungsprobleme gehabt hatte. Niemanden verriet er Jennys Geheimnis, sondern ließ es dabei, daß sie als Problemfall galt. Denn er hatte sie lieb gewonnen und nutzte ihre Gelehrigkeit, um dennoch von ihrem Nutzen für den Tierpark zu überzeugen. Nun würde all das nicht mehr helfen, er mußte heute von ihr Abschied nehmen. – Ein Abschied für immer, daß wußte er. „Aber versprich mir, daß du dich benehmen wirst, daß du fleißig bist und all das machst, was von dir verlangt wird. Behandle deine Pfleger gut, auch wenn sie häßlich zu dir sind. Ich möchte nicht, daß du wie deine Artgenossin endest, die Mr. Edison auf einer Art elektrischem Stuhl hingerichtet hat. Und nur, weil er in seiner Verbohrtheit zeigen wollte, wie gefährlich der Wechselstrom von George Westinghouse ist. Glaubt Mr. Edison etwa, sein Gleichstrom wäre sicherer? Aber er kann einfach nicht verlieren. – Unschuldige Tiere töten, nur weil man jemand anderen bloßstellen will, ist nicht richtig.“
Die Dickhäuterin gab einen Brummton von sich und suchte in Pascals Taschen nach Eßbarem. Allerdings hatte sie damit kein Glück, weshalb sie den Rüssel zurückzog und ihn sich unschlüssig ins Maul steckte.
„Pascal, es wird Zeit“, mahnte ihn eine Stimme.
Der junge Tierpfleger nickte unwillig, ergab sich aber ohne Murren dem Befehl, der den Worten unsichtbar anhaftete.
„Nun müssen wir Abschied nehmen. Wir werden uns nie mehr wiedersehen, daß spüre ich. Doch sei gewiß, meine Kluge, meine Schlaue, du wirst immer einen Platz in meinem Herzen haben.“ Er stockte. Es war so schwer die richtigen Worte zu finden, so schwer sie über die Lippen zu bringen. Sein Hals fühlte sich an, als habe er einen riesigen Stein verschluckt, der ihm das Schlucken schwer machte. Seine Kehle schmerzte. Tränen stiegen ihm unaufhörlich in die Augen. „Ich werde dich nie vergessen. Egal was passiert.“
Schweigend strich er über Jennys Rüssel, fühlte die rauhe Haut und die pieksenden Stellen, wo sich Haare befunden hatten und bei der täglichen Körperpflege abgebrochen waren. Nun konnte er die Tränen nicht mehr zurückhalten, seine Augen schwammen, konnten das Naß nicht mehr aufhalten, daß nun seine Wangen herunterlief.
Jenny war genauso traurig wie Pascal und schweigend weinten sie, dicht aneinander geschmiegt, bis das Gitter zur Box der Elefantenkuh geöffnet wurde. Da riß sich der junge Justine zusammen, streckte sich und wischte entschlossen die Tränen aus seinem Gesicht.
„Es hilft ja alles nichts, meine Socke, unsere Wege werden sich nun für immer trennen.“
Er wollte gehen, doch die Elefantenkuh hielt ihn am Arm fest.
Noch gehst du nicht, ehe ich dir nicht mein Abschiedsgeschenk überreicht habe. Es ist das einzige, was ich dir geben kann.
Entschlossen nahm die Elefantenkuh ein Büschel Stroh in den Rüssel und legte es sanft in Pascals Hand. Dieser sah sie verdutzt an.
„Willst du mir das zum Abschied schenken?“, frage er skeptisch und sah der Elefantenkuh in die klugen Augen.
Mit einem Kopfnicken beantwortete Jenny seine Frage.
Ja, er sollte das Stroh zum Andenken an sie behalten. So wie sie ihn durch das Tuch in Erinnerung behalten würde, das sie ihm vorhin abgeluchst hatte. Sie würde es hüten wie ihren Schatz, was es für sie auch war, und niemandem zeigen, denn das Tuch gehörte ihr ganz allein.
Sie beobachtete ihren Lieblingspfleger, wie er das Stroh ordnete und das Büschel dann fest mit den Fingern der Hand umschloß. Die Elefantin betrachtete ihn gütig. Nahm seine Gestalt, sein Gesicht, seine grünen Augen und seine Stimme in sich auf. All dies wollte sie tief in ihrem Inneren bewahren, damit sie ihn nie mehr vergaß.
Pascal war alles für sie gewesen. Er hatte immer an sie geglaubt, hätte alles für sie getan, damit es ihr gut ging. Denn er hatte sie zu einem Teil seiner Seele gemacht. Nie hätte er zugelassen, daß sie sich trennen mußten. Das hatten andere entschieden.
„Komm“, sagte der junge Tierpfleger und hielt ihr die Hand hin, damit sie ihren Rüssel hineinlegen konnte. Doch Jenny schob ihn sanft vorwärts, suchte im Stroh mit ihrem Rüssel nach etwas und als sie es gefunden hatte, trottete sie zufrieden hinter ihrem Menschenfreund her.
Als sie draußen angekommen waren, wühlte die Dickhäuterin noch einmal in seinen Taschen, obwohl sie wußte, daß sie leer waren. Und obwohl sie nichts fand, wirkte sie überaus zufrieden. Als sei ihr etwas gelungen, was niemand mitbekommen hatte, allen voran nicht Pascal.
Noch einmal streichelte der junge Justine zärtlich über ihre faltige, rauhe Haut. Jenny erwiderte seine Berührung und fuhr ihm durchs Gesicht, pustete ihn an und ließ ihren Rüssel dann für wenige Augenblicke um seinen Hals geschlungen liegen. Wehmütig blickte sie auf ihn nieder.
Nun war der Zeitpunkt des Abschieds gekommen, sie spürte es ganz deutlich.
„Mach’s gut, meine Schöne, meine Kluge. Lebwohl, alte Socke“, brachte er stockend mit tränenerstickter Stimme gerade noch zustande. Dann, ohne sich noch einmal nach der Dickhäuterin umzudrehen, rannte er zurück ins Elefantenhaus. Erst in Jennys Box kam er zum Stehen. Sein Herz und seine Lunge schmerzten, er hätte mit dem Splitter im Körper nicht so rennen dürfen. Doch wenn er jetzt in den nächsten Minuten sterben sollte, starb er in dem Wissen, daß Jenny noch in seiner Nähe war und doch nicht merken würde, daß er sein Leben ausgehaucht hatte.
Langsam rutschte er mit dem Rücken die Wand entlang bis er auf dem Stroh saß, auf dem bis vor wenigen Augenblicken Jenny noch gestanden hatte. Stumm starrte er auf das Büschel Stroh in seiner Hand, welches die Dickhäuterin ihm gegeben hatte, und nun immer mehr zu einer gelblichen Masse verschwamm.
Es war so ruhig im Elefantenhaus, daß er seinen eigenen Atem und sein Herz schlagen hörte. Jenny, für ihn das liebste Wesen auf der Welt, war der letzte Elefant, der das Haus verlassen hatte. Nun erinnerte nur noch der Geruch daran, daß sich hier einmal Elefanten aufgehalten hatten. Doch selbst dieser würde mit der Zeit verfliegen bis nur noch die eigene Erinnerung davon erzählen konnte, daß hier einmal Dickhäuter gewesen waren. Die furchtbare Stille durchbrach das Trompeten eines Elefanten – Jennys Abschiedsgruß.
Da gab es für Pascal kein Halten mehr und er ließ den Tränen freien Lauf. Er weinte wie ein kleines Kind, das seinen Freund verloren hatte, und fühlte sich hundeelend.
Reglos saß er so da und die Tränen rannen in kleinen Sturzbächen über sein Gesicht und durchnässten sein Hemd. Er weinte, wie er noch nie geweint hatte, als würde all das Elend aus ihm hinausfließen. Nicht einmal beim Tod seines Vaters oder dem seiner Schwester Klara hatte er auch nur eine einzige Träne vergossen. Er hatte sich unendlich traurig gefühlt, doch seine Augen waren trocken geblieben, so sehr er sich auf gewünscht hatte, weinen zu können.
Jenny war im Laufe der Jahre ein Teil seines Lebens und seiner Seele geworden. Wie ein Familienmitglied war sie für ihn gewesen, obwohl sie doch nur ein Elefant war, wie er sich immer wieder gesagt hatte. Doch sie war klug und verständnisvoll gewesen. Sie beide hatten sich auch ohne Worte verstanden, und als es ihm schlecht ging, war Jenny da gewesen und hatte ihm Trost gespendet. Die Elefantenkuh hatte besser als er selbst verstanden, wie es ihm ging und immer gewußt ihn aufzuheitern. Damit war es nun vorbei. Nun hatte er auch Jenny verloren.
Pascal dachte an seinen Vater, an Johann, Klara und an Masut. All die Toten, die er gern gehabt hatte und denen er in einigen Jahren folgen würde. Jenny würde ihn um viele Jahre überleben und sich noch an ihn erinnern, wenn seine Knochen längst unter der Erde vermoderten.
Er sollte so nicht denken, doch welche Zukunft hatte er noch? Der Tierpark war mangels Tieren geschlossen, eine Arbeit hatte er nicht mehr. Ja, er könnte sein Medizinstudium wieder aufnehmen und abschließen, an Geld mangelte es ihm Dank Masuts Anteilen an der Firma Mellinghoff nicht. Doch mit der Verletzung, die er aus dem großen Krieg mitgebracht hatte, könnte er kaum etwas leisten. Jegliche Anstrengungen waren ihm verboten, zu groß die Gefahr, daß der Splitter zum Herzen oder zur Lunge wanderte.
Er war dazu verdammt auf den Tod zu warten! Doch bis dahin wollte er für seinen Neffen noch die Lebensgeschichte seiner Vorfahren aufschreiben – und ihm vor allem mitteilen, welches Geheimnis das Blut seiner Vorväter barg. Doch vor allem mußte er ihm das Versteck der Rollen des Seth vorenthalten, um dessen Leben zu schützen. Nur ein kluger Kopf sollte das Rätsel lösen können, wo sich der Krug und das Amulett befanden. So lange sie unentdeckt blieben, konnte seine Familie in Ruhe leben und brauchte sich nicht vor den Mitgliedern des Wahren Horus fürchten.
Die Tränen waren versiegt. Pascal suchte in seinen Hosentaschen nach seinem Taschentuch, doch es war verschwunden. – Dabei hatte er es doch heute Morgen eingesteckt. – Stattdessen fand er einen anderen Gegenstand, der uneben, spitz, aber zugleich glatt war. Er wußte nicht, was es sein sollte, doch als er es aus der Tasche zog, erkannte er, daß es sich um einen Elefantenzahn handelte. Jenny mußte er bei einem Zahnwechsel ausgefallen sein und versteckt haben. Sie mußte sich entschlossen haben, ihn Pascal zu schenken, denn der Zahn würde die Zeit länger überdauern, als ein Büschel Stroh. Der ehemalige Tierpfleger, denn mit dem Abschied der Elefantenkuh hatte sein Arbeitsverhältnis geendet, betrachtete den quaderförmigen Zahn, der von tiefen Rillen durchzogen war. Es war das Kauwerkzeug eines Pflanzenfressers. Nur konnte er sich keinen Reim darauf machen, wie der Zahn unbemerkt in seine Tasche gekommen war. Jenny mußte ihm den Gegenstand zugeschoben haben, als sie in seinen Taschen nach Futter gesucht hatte. Bei der Gelegenheit mußte sie ihm auch sein Taschentuch entwendet haben.
„Was für eine kluge, freche Socke du doch bist!“, sagte er und erneut kamen ihm die Tränen.