#aprilsettings Tag 20 – Gibt es ein typisches Gericht (Essen…) an deinem Schauplatz?

Ja, einmal sind das Nudeln, die an Bord des Nilkreuzfahrtschiffes von Isis Just gegessen werden und dann ist das der Kreuzkümmel, der in jedem Gericht auftaucht.
Etwas wirklich typisch Ägyptisches kommt leider kaum vor. Das sind einmal Köfte in einem Restaurant, wo die Reisegruppe während ihres Ausflugs zu den Pyramiden von Gizeh isst. Ansonsten ist alles sehr westlich angehaucht. Da gibt es Waffeln, Nudeln, Wurst und Käse. All das, was man auch zu Hause essen kann.
Was noch relativ typisch ist, ist der Fünf-Uhr-Tee auf den Nilschiff. Der wird gerne und reichlich von Isis und ihren Freundinnen in Anspruch genommen. Dazu gibt es auch ein wenig Knabbergebäck.
(Helen Dalibor)

12. Kapitel

Staunend stand Johann vor dem Löwen-Gehege. Faul lagen die Raubkatzen in ihrem Gehege und dösten, nur durch einen Wassergraben getrennt von den Besuchern. Wie war es möglich, daß hier die Löwen nicht hinter Gitter waren, wie es im Zoologischen Garten war? Der Zoologische, wie er von den Hamburgern genannt wurde, befand sich in der Nähe des Dammtor-Bahnhofs. Der bekannteste Direktor des zoologischen Tiergartens war Alfred Brehm gewesen, der nach einigen Jahren den Posten wegen Unstimmigkeiten abgegeben hatte. Obwohl dieser Zoo länger bestand als der Tierpark vor den Toren Hamburgs, mußte er geringere Besucherzahlen vorlieb nehmen. Vielleicht lag es an den revolutionären Gehegebauten, die hier in Hagenbecks Tierpark zu betrachten waren. Nicht Gitter trennte die Besucher von den Tieren, sondern Gräben. Sicherlich waren auch die Völkerschauen ein weiterer Grund, weshalb die Besucher strömten.
„Gefallen dir die Löwen?“, fragte jemand in seinem Rücken und legte Johann eine Hand auf die Schulter.
Der blonde Junge zuckte zusammen, erstarrte und hielt die Luft an. Ich bin entdeckt, ging es ihm durch den Kopf.
„So sprachlos, junger Herr?“
Neben Johann tauchte ein um einige Jahre älterer junger Mann auf, der im Tierpark zu arbeiten schien, er trug die typische Kleidung der Tierpfleger.
„Wollte nur gucken“, erwiderte Johann schnell. Seine Stimme zitterte und seine Zunge verhaspelte sich bei den Worten. „Eintrittskarte hab‘ ich verloren.“
„Danach habe ich dich gar nicht gefragt.“ Der junge Mann musterte Johann. „Hast du dich etwa rein geschmuggelt?“
Mit schreckgeweiteten Augen sah er den Tierpfleger an. Durch eine unbedachte Aussage hatte er sich selbst verraten. Alles würde auffliegen. Er müßte zurück aufs Schiff oder schlimmer noch, zurück zu seiner ungeliebten Tante. Hätte er nur geschwiegen! Bevor er weiter nachdachte, rannte er los, so schnell er konnte. Weit kam er nicht. Als er um die Ecke bog, stieß er mit einem Besucher zusammen und fiel hin.
„Paß auf, wo du hinläufst!“, hörte er den älteren Herrn sagen.
Bevor er aufgestanden war, wurde er unsanft am Kragen gepackt.
„So schnell entkommst du mir nicht, Freundchen!“
„Es ist doch nichts geschehen. Er hat nur nicht aufgepaßt, wohin er gelaufen ist.“ Die eben noch erregte Stimme des männlichen Besuchers klang nun sanfter und besorgt.
„Darum geht es nicht.“
Johann wurde am Kragen hochgezogen bis er auf seinen beiden Beinen stand. Dann spürte er einen harten Griff um sein Handgelenk, als würde Eisen es umfassen.
„Hat er was angestellt?“
„Nein, mein Bruder kann nur nicht gehorchen. Und nun gehen Sie weiter. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Aufenthalt in Hagenbecks Tierpark.“
Im Gesicht des Besuchers, mit dem Johann zusammengestoßen war, stieg die Zornesröte hoch. Ohne ein Wort ging er weiter.
Verdutzt sah Johann den Tierpfleger an. Hatte dieser gerade gelogen und ihn als seinen Bruder ausgegeben?
„Bruder? Wieso haben Sie das gesagt?“
„Mir ist auf die Schnelle nichts anderes eingefallen.“
„Wie wäre es mit der Wahrheit gewesen?“
Überraschte blickte der junge Mann Johann an. Mit dieser Frage hatte er nun gar nicht gerechnet. Aber ihn hatten schon ganz andere Dinge in letzter Zeit verwundert.
„Manchmal ist es besser, die Wahrheit nicht auszusprechen. Doch was ist die Wahrheit? Du machst blau und bleibst der Schule fern? Du hast dich hier rein geschmuggelt? Oder du versteckst dich bei den Ägyptern?“ Der Tierpfleger sah Johann an, der seinem Blick auswich und schnell den Kopf senkte. „Was ist denn nun die Wahrheit?“
Das Kinn des blonden Jungen wurde angehoben, daß er seinem Gegenüber direkt ins Gesicht sehen mußte.
„Was wollt ihr von mir?“
„Erst einmal deinen Namen.“
Johann wußte nicht, was er tun sollte. Seinen wahren Namen nennen? Lügen und hoffen, daß der Tierpfleger von ihm ablassen und ihn gehen lassen würde? Er konnte den jungen Mann nur schwer einschätzen.
Er schalt sich selbst einen Narren. Wäre er nur in dem Beduinendorf geblieben. Hätte er seiner Neugier nur nie nachgegeben. Sein Freund hatte Recht gehabt, als er ihn zurückhalten wollte. Doch er wollte nicht mehr länger einen Ägypter spielen, gefangen sein in diesem Schaudorf.
Er wollte Masut nicht enttäuschen, deshalb spielte er das Versteckspiel weiter, doch er wollte nicht mehr. Ewig aufpassen, daß er sich nicht verrät, daß er Gesicht und Hände mit Erde oder Kohle einschmiert. Er war es Leid, wollte es nicht mehr. Und so sagte er seinen Namen, egal welches Risiko sich daraus ergab.
„Johann“, sagte er matt.
„Gut, Johann, dann sag mir, was du hier machst und wie es kommt, daß du dich im Tierpark befindest, ohne daß du eine Eintrittskarte hast. Wie kommt es, daß der Wasserträger der Glasbläser verschwunden bist, während du hier vor mir stehst?“
Johanns Augen weiteten sich vor Erstaunen. Wie konnte es sein, daß dieser junge Tierpfleger wußte, wer er war? Hatte er sich durch irgend etwas verraten?
Verstohlen warf er einen Blick auf seine Hände und konnte keinen schwarzen Fleck erkennen. Vielleicht war in seinem Gesicht etwas zu sehen, doch hatte er es nicht gewissenhaft geprüft, bevor er das Beduinendorf verließ?
„Habe ich dich ertappt? Zugegeben, ich habe es nicht darauf angelegt, dein falsches Spiel herauszufinden. Mein Auftrag war, deinen Freund zu beobachten, ob er nicht doch noch irgendwelche Krankheitssymptome zeigt. Na ja, der scheint mir vollkommen gesund zu sein, aber mit dir schien etwas nicht zustimmen. Ich wußte nie, was es war, bis ich dich vorhin ohne deine Verkleidung gesehen habe.“ Ein kaum wahrnehmbares Lächeln erschien auf dem Gesicht des jungen Tierpflegers, als er daran zurückdachte, wie überrascht er gewesen war, daß sich der kleine unbeholfene Ägypter als blonder Junge entpuppte. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie erstaunt ich war. Ich wollte meinen Augen nicht trauen und fragte mich sogleich, wie du die medizinische Untersuchung hinter dich gebracht hast, ohne erwischt zu werden.“
„Ich habe mich versteckt.“
„Habe ich es mir doch gedacht, kluges Kerlchen. Der Doktor hätte den Schwindel sofort erkannt. Eines muß man dir lassen, du bist wirklich gewitzt.“
Johann wußte nicht, ob er dies als Kompliment verstehen sollte. Noch immer konnte er den jungen Tierpfleger nicht einschätzen. Anstatt ihn sofort zu melden, redete er mit ihm. Er fragte nicht einmal, wo er herkam. Stattdessen sprach er mit ihm, als sei er kein Dienstbote, sondern ein normaler Junge. Es war ewig her, daß Johann so zuvorkommend behandelt worden war. Damals hatte seine Mutter noch gelebt.
„Gehen wir zu deinem Freund. Auf dem Weg dorthin erzählst du mir, woher du kommst und wie es dazu kam, daß du als falscher Ägypter bei der Völkerschau gelandet bist.“
Johann verdrehte die Augen.
Das war genau das gewesen, was er eigentlich nicht tun wollte. Er wollte nicht zurück zu seiner ungeliebten Tante und deren Söhnen. Sie hatte ihn als billige Arbeitskraft verkauft. Genau das würde sie wieder tun, wenn er zu ihr zurückkehren mußte.

4. Kapitel

Hamburg-Hafen, 1912
Das Schiff hatte im Hafen der Segelschiffe angelegt und war mit gekonnten Griffen vertäut worden. Gleich darauf waren Masut und seine Begleiter mit harschen Worten aufgefordert worden sich bereit zu machen, das Schiff zu verlassen.
Johann stand neben Masut, sein Gesicht, seine Hände und seine Beine waren mit nassem Kohlenstaub eingerieben worden. Seine blonden Haare waren unter einem Tuch verborgen, sie hatten sich nicht färben lassen können. Auf den ersten Blick wirkte er wie einer von ihnen. Wie ein Ägypter. Dennoch hielt sich Johann nahe bei Masut auf, der ihn in die Mitte der Gruppe schob, damit er unauffällig in der Masse verschwand. Zuvor hatte er ihm eingebläut, niemanden direkt anzusehen, damit seine blauen Augen nicht auffielen.
Die Luke wurde geöffnet und grelles Licht drang in den Laderaum. Die Ägypter schlossen die Augen und öffneten sie nur langsam.
„Raus mit euch!“, forderte eine Stimme die Gruppe auf.
Einen Fuß vor den anderen setzend stiegen die Ägypter die Stufen hinauf bis sie sich auf dem Deck des Segelschiffes befanden.
Masut hatte die Person wiedererkannt, der ihn und die anderen angeworben hatte. Er schien ein freundlicher Mann zu sein. Als er in ihr Dorf gekommen war, hatte er niemanden gezwungen mitzukommen. Ausführlich hatte er geschildert, was einen in der fernen Welt erwarten würde.
Nie wurde jemand gedrängt, das er bei diesem Unternehmen, das einem Abenteuer glich, mitmachen sollte. Doch es waren auch Ablehnungen ausgesprochen worden, vor allem gegen die, die nur das Geld im Kopf gehabt hatten. Natürlich hatte es verlockend geklungen, auf dieser Reise auch etwas zu verdienen. Doch war es das Geld wirklich wert, vor allem bei den Risiken, die diese Reise barg? Für Masut hatte es keine Sekunde des Zögerns gegeben. Zuhause konnte er auch sterben, der Fluch, der auf seiner Familie lastete, würde ihn eines Tages genauso treffen, wie seinen Bruder, seinen Vater und seine Vorfahren. Wenn er in der Fremde starb, sollte es so sein, aber er hätte die Gegenstände des Unglücks außer Landes, fern von seiner Familie, gebracht.
„Wir werden sie nach Stellingen bringen. Der Arzt ist verhindert, um sie sich noch zuvor anzusehen“, sagte der Mann, der soeben das Schiff betreten hatte und auf den Anwerber zugegangen war.
„Gut, hoffen wir, daß alle gesund sind.“ Anzeichen dafür hatte es auf der Rese keine gegeben, allerdings mußte das noch lange nichts heißen. Nach der ärztlichen Untersuchung würden sie mehr wissen. Aber er hatte ein gutes Gefühl.
Der eben eingetroffene machte ein Zeichen und die Gruppe Ägypter wurde vom Schiff auf mehrere Lastenwagen getrieben.
„Wie viele sind es?“
Der Anwerber holte ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus seiner Jacke. Es war dicht beschrieben, doch am Ende waren einige Ziffern unterstrichen.
„59 Männer, 13 Frauen und 18 Kinder. Nicht zu vergessen die acht Derwische.“
„Daraus läßt sich etwas machen. Bei den zwei Eskimos sind die Besucher doch recht enttäuscht gewesen. Die Anzeigen in den Zeitungen hatten mehr versprochen als eigentlich geboten wurde.“
„Ja, so was kann vorkommen. Nicht jeder will sich ins Ungewisse aufmachen, da kann man so sehr zureden wie man möchte, doch man kann niemanden zwingen.“
„Würde auch nur Ärger bringen.“
Die beiden Männer verabschiedeten sich vom Kapitän und verließen das Schiff. Der Kapitän sah ihnen kurz hinterher. Als die Gruppe Ägypter sich in Zweierreihen formiert hatte und der Zug sich schließlich in Bewegung setzte, wendete er sich ab.
„Habt ihr Johann gesehen?“, wollte er von zwei Matrosen wissen.
„Den Zwerg? Nee, seit gestern nich'“, sagte einer der beiden im breitesten hamburgisch.
„Dann sucht ihn. Ich habe mit ihm zu reden.“
„Was hat er denn ausgefressen?“, wollte der andere wissen.
„Nichts. Holt ihn mir einfach her.“
Mit ungutem Gefühl ging der Kapitän in seine Kajüte. Viel zu lange hatte er seinen Schiffjungen vernachlässigt, ihn von den Matrosen demütigen lassen. War nicht eingeschritten, wenn er Arbeiten erledigen sollte, für die er in seinem Alter noch gar nicht die Kraft besaß. Von Anfang an war ihm aufgefallen, daß dem Jungen die Arbeit nicht gefiel, dennoch hatte er begierig alles aufgesogen, was er erfahren konnte.
De Entscheiduhg, die er sich überlegt hatte, war gut durchdacht. Der Kapitän wollte ihn wieder zur Schule schicken, dann vielleicht auf die höhere Handelsschule. Möglicherweise würde er ihn adoptieren. Johannes Eltern waren tot und die Tante hatte ihn wie ein Stück Vieh verkauft.
Er wurde aus seinen Gedanken gerissen. Jemand hatte an seine Kajütentür geklopft und war eingetreten.
„Der Junge ist weg! Wir haben alles abgesucht. Er ist verschwunden.“
„Danke, kannst gehen“, sagte der Kapitän matt. Resigniert starrte er auf den Michel, die Kirche St. Michaelis, das Wahrzeichen Hamburgs, das nach einem Brand wieder aufgebaut worden war und in wenigen Monaten feierlich wiedereröffnet werden sollte. Er hatte zu lange gezögert, hätte Johann schon früher in seine Pläne einweihen müssen. Nun war es zu spät. Er wußte, Johann würde er nie wiedersehen.