14. Kapitel

Als Masut seinen Schlafraum aufsuchte, nahm er einen fremden Geruch wahr. Sein Blick irrte durch den Raum bis er an etwas haften blieb. Erschrocken zog er die Luft laut ein. Das Tuch, welches die beiden Gegenstände verhüllte, lag anders gefaltet da. Die linke Ecke lag zu oberst, obwohl der junge Ägypter sie kunstvoll um den Hals des Kruges gelegt hatte.
Jemand war hier gewesen, jemand, der gezielt nach den Gegenständen gesucht und sie natürlich auch entdeckt hatte. Masut hatte sich sicher gefühlt und es nicht für nötig befunden, die Gegenstände zu verstecken. Dies hatte sich nun geändert.
Doch wo sollte er ein passendes Versteck finden? Er kannte nur das Beduinendorf, hatte einmal den Tierpark gesehen und diese wundervollen Kunststeine. Die Felsenbauten, groß und imposant, waren sie nicht das ideale Versteck? Konnten sie als Versteck dienen? Gab es einen besseren Ort als diesen? Doch wie sollte er dorthin noch einmal gelangen? Er kam hier nicht raus aus dem Dorf. Einzig Johann konnte es ohne Probleme verlassen und sich frei im Tierpark bewegen. Doch sollte er Johann in sein Geheimnis einweihen? Sollte er ihn den Gefahren aussetzen, in denen er nun schwebte? Er hatte so vorsichtig gehandelt, während der ganzen Fahrt auf dem Schiff über den Krug gewacht, ihn bei seiner Abreise so verpackt, als würde er einen Haufen an Kleidung und Sandalen mitnehmen. All die Vorsichtsmaßnahmen hatte er sorgfältig ausgeführt. Und als er sich in Sicherheit gewogen hatte, hatte er es nicht mehr für nötig gehalten, die Gegenstände sorgfältig zu verstecken, sondern hatte sie nur in eine Ecke seines Schlafraumes gestellt.
Das war ein Fehler gewesen, wie sich herausgestellt hatte. Nun war man hinter ihm her. Er mußte die Augen offen halten, wenn er die nächsten Monate weiterleben wollte.
Ein Lufthauch strich an seiner Wange vorbei. Reglos blieb er stehen.
Jemand war in den Raum getreten. Vielleicht derjenige, der nach dem Krug gesucht hatte? Er wußte es nicht. Traute sich auch nicht, sich umzudrehen. Lieber würde er warten bis der Feind zuschlug. Dann wäre es vorbei.
„Ich habe dich schon gesucht“, sagte eine ihm vertraute Stimme.
„Johann!“, sagte Masut sichtlich erleichtert und fiel aus seiner Starre. Alle Last fiel von ihm ab. „Was machst du? Warst du schon mal hier?“
„Ich habe dich gesucht, aber ich hatte hier noch nicht geschaut. Ich wollte dir sagen, daß ich das Beduinendorf verlassen werde. Pascal und seine Schwester werden mich zur Schule schicken.“
„Schule?“ Masut verstand nicht, was Johann ihm sagen sollte. „Muß ich da auch hin?“
„Weiß ich nicht. Wenn du nicht lesen und schreiben kannst, solltest du auch eine Schule besuchen.“
„Ich kann meinen Namen schreiben und die Bibel kann ich auch lesen. Reicht das?“
Johann lachte.
„Für dich wird es reichen, für mich nicht.“
„Kommst du dann nicht mehr?“ Masut fühlte sich auf einmal allein, fremd an diesem Ort, der nun seit Wochen schon sein Zuhause war.
„Natürlich werde ich kommen. Nur weil ich jetzt wieder zur Schule gehe und nicht mehr hier lebe, vergesse ich dich nicht. Du bist doch mein bester Freund.“
„Gehst du heute?“
„Ja, ich werde meine Sachen zusammenpacken und dann für einige Wochen bei Pascal und seiner Schwester leben bis ich dann meinem Großvater vorgestellt werde. Wenn er mich denn kennen lernen möchte.“ Johann hatte seinen Kopf gesenkt. Unsicher, zaghaft und kaum hörbar war der letzte Satz über seine Lippen gekommen. Er wußte nicht, wie sein Großvater die Nachricht auffassen würde, daß er einen Enkel habe.
Bis vor einigen Tagen hatte er nicht einmal gewußt, daß er überhaupt noch irgendwelche anderen Verwandte hatte als die Schwester seiner Mutter, die ihn wie ein Stück Vieh verkaufte, um ihn los zu sein.
Er hatte nicht gewußt, daß er einen Großvater hatte. Seine Eltern hatten nie von ihm erzählt. Nur einmal, da hatte er eine Fotografie gefunden, die er stolz seiner Mutter gezeigt hatte. Die Fotografie zeigte einen älteren Mann mit strengem Blick, aber liebevollen Augen. Und neben diesem Mann stand sein Vater. Die Mutter hatte ihm sofort die Fotografie weggenommen und ihn gescholten. Doch ihre Augen hatten etwas Trauriges angenommen, so daß Johann nicht weiter fragen wollte. Er hatte sie später noch einmal fragen wollen, wenn er älter war, doch dies war ihm nicht mehr vergönnt gewesen. Kurze Zeit später waren seine Eltern tot gewesen. Die Fotografie hatte er nie wieder gesehen. Vielleicht hatte seine Mutter sie vernichtet.
In den letzten Tagen fragte er sich immer wieder, warum er nicht zu seinem Großvater gekommen war. Hatte dieser ihn nicht haben wollen? Wenn dies tatsächlich so gewesen war, würde er ihn jetzt auch nicht haben wollen. Warum sollte er auf einmal sentimental werden und seinen Enkel jetzt doch im Haus aufnehmen? Wenn er Pech hatte müßte er wieder zu seiner Tante zurückkehren. Nein, das wollte er auf keinen Fall. Da würde er sich wieder als Beduine verkleiden und wenn er es bis zum Ende seines Lebens tun mußte. Dann hatte das Schicksal es so gewollt.
„Viel hast du nicht, daß du mitnehmen kannst.“
Masut erinnerte sich an das kleine Bündel, das sein Freund vom Schiff mitgenommen hatte.
„Soll ich von dir was mitnehmen? Den Beutel da vorne, den ich schon vor Wochen gerettet habe?“ Johann deutete auf den Krug, verborgen in einem fein gewebten Wolltuch.
Der Ägypter blickte den blonden Jungen an und sah dann auf den Krug, an dem auch das Amulett des Todes hing.
Das ihm nicht gleich die Idee gekommen war, als Johann davon sprach, das Beduinendorf zu verlassen. Er wäre die Last los und müßte sich erstmals keine Sorgen machen, wo er die Gegenstände des Verderbens unterbringen sollte, damit sie sicher waren. Doch wollte er Johann die verfluchten Gegenstände wirklich übergeben? War das Risiko nicht zu groß? Wollte er seinen Freund wirklich in Gefahr bringen, um selbst der Bedrohung zu entkommen? Johann kannte das Risiko nicht, das er eingehen würde, wenn er die Gegenstände mitnähme.
Es war nicht rechtens, was er tat, doch er mußte es tun. Für einige Wochen würde die Gefahr, die über ihm schwebte, gebannt sein. Innerhalb dieses Zeitraums mußte er sich ein passendes Versteck suchen, wo die verfluchten Gegenstände für längere Zeit, vielleicht sogar für immer, verbleiben konnten. Bis dahin waren sie bei Johann sicher. Doch die Gefahr würde nicht gebannt sein. Solange die Gegenstände existierten, war sie immer da und schwebte über ihnen.
„Kannst du das dort mitnehmen?“ Masut deutete auf den verhüllten Krug. „Er stört mich hier und ich habe Sorge, daß jemand ihn stehlen könnte.“
„Ach, deshalb wolltest du wissen, ob ich bei dir war. Klar kann ich das mitnehmen. Es ist bloß so schwer.“
Johann wollte wissen, was sich unter dem Wolltuch verbarg. Schon vor einigen Wochen hatte er es erfahren wollen, doch Masut hatte ihn vertröstet. Nun war anscheinend die Zeit gekommen, wo er ihm sagen mußte, welche Gegenstände sich unter dem Tuch befanden.
Johann selbst hatte nur Vermutungen anstellen können. Der Gegenstand hatte eine unebene Oberfläche gehabt, war in der Mitte dickbauchig und hatte einen Sockel. Der Gegenstand ließ sich auf den Boden stellen, so wie er nun stand, aber was war es? Seine Fantasie hatte nicht ausgereicht, um sich irgendwelche Gegenstände auszumalen, die dieser Form gerecht würden.
„Komm her, ich zeige dir, was du mitnehmen sollst. Aber sag nichts, Schau es dir nur an und nicht anfassen.“
Johann machte große Augen. Was nur mochte so geheimnisvoll und gefährlich zugleich sein? Befand sich eine Schlange in dem Gefäß? Ja, denn ein Gefäß mußte es sein, aber was es verbarg, konnte er sich nicht vorstellen. Es mußte gefährlich sein, schließlich durfte er es nicht anfassen. Vielleicht doch eine Schlange – eine Kobra. Noch nie im Leben hatte er eine Kobra gesehen, aber aus Erzählungen seines Vaters wußte er, daß diese Schlangen zu Flötenmusik sich bewegten. War Masut in Wirklichkeit ein Schlangenbeschwörer? Warum hatte er sich nicht dafür gemeldet, sondern arbeitete in der Glasbläserei? Er hielt die Spannung nicht mehr aus.
Vielleicht handelte es sich aber auch um ein vergiftetes Buch. Nein, welch absurder Gedanke, dafür war der Gegenstand zu rund gewesen. Wie eine Vase, genau das mußte es sein. Aber konnte eine Vase eine rauhe, unebene Oberfläche haben? Und dazu hatte es doch auch geklappert. Als er es bewegt hatte, klapperte irgendwas, daran erinnerte er sich genau. Konnte es eine Waffe sein, die Masut eingeschmuggelt hatte? Aufgeregt verfolgte Johann mit den Augen, wie sein ägyptischer Freund das Wolltuch von dem geheimnisvollen Gegenstand zog. Noch bevor er einen Blick auf den Gegenstand werfen konnte, wurde er von Masut herangewunken bis er direkt vor dem Gegenstand zum Stehen kam. Voller Vorfreude malte er sich die fantasievollsten Waffen aus, die er sich vorstellen konnte. Doch wie groß war seine Enttäuschung, als Masut den Blick freigab und eine Vase, womöglich ein Krug, zum Vorschein kam.
Wegen so einem ollen Krug hatte sein Freund so ein Geheimnis gemacht? Wegen einer langweiligen Tonvase, die vielleicht ungewöhnlich verziert war, aber nicht erklärte, warum sie Masut so wichtig war.
Johann sah etwas blinken und der Ägypter holte mit seiner Hand eine Kette aus dem Tuch hervor. Fasziniert bückte sich Johann und streckte die Hand aus, doch dann erinnerte er sich an Masuts Warnung und zog sie schnell wieder zurück.
„Die darfst du nie anfassen und schon gar nicht umhängen. Versprich es, Johann.“ Der blonde Junge verstand zwar nicht, warum er die Kette nicht anfassen durfte, doch um Masut zu beruhigen, nickte er. „Gut, ich kann dir jetzt nicht sagen, was es mit den beiden Dingen auf sich hat. Wenn ich ein passendes Versteck dafür gefunden habe, werde ich es dir sagen. Jetzt ist es gut, wenn du die Geschichte noch nicht kennst.“
Johann betrachtete die Kette, die Masut noch immer in den Händen hielt.
Rote, weiße und blaue Steine wechselten sich ab. Kleine Ringe, die aufgefädelt worden waren und in einem größeren Amulett endeten. Das Amulett schien nur aus Gold zu bestehen, wie auch die Fäden, die durch die farbigen Steinringe beinahe verdeckt waren. Irgendwie kam Johann das Edelmetall seltsam vor. Es glänzte mehr silbern als golden. Silber schien es aber auch nicht zu sein. Gab es ein Metall, daß aus einer Mischung aus Gold und Silber bestand?
Erneut wollte der blonde Junge es berühren, doch bevor er seine Hände ausgestreckt hatte, steckte Masut es in die Hüllen des Tuches zurück und auch die Vase verschwand darin.
„Du wirst ein gutes Versteck dafür finden müssen. Niemand darf das in die Hände anderer gelangen. Hörst du?“
Johann nickte, auch wenn er Masuts Drängen nicht verstand. Er würde es verstecken und dann erfahren, was es mit den beiden Gegenständen auf sich hatte. Doch wo sollte er die Vase und die Kette verstecken? Vielleicht würde sich eine Gelegenheit bieten, wenn er den Tierpark verlassen hatte. Masut hätte gewiß bereits ein passendes Versteck gefunden, wenn er die Gegenstände in seiner Nähe hätte haben wollen. Doch sie sollten irgendwo versteckt werden, wo sie nicht mit dem Ägypter in Zusammenhang gebracht werden konnten. Er – Johann – war zwar noch jung, aber er durchschaute, was sein Freund bezweckte. So glaubte er jedenfalls, daß er Masut verstand. Den Sinn des Ganzen konnte er aber nicht nachvollziehen.
„Darf ich Pascal einweihen, damit er mir hilft? Er kennt sich besser hier aus und weiß gewiß auch, wo sich so was verstecken läßt.“
„Nein!“, sagte der junge Ägypter barsch. Es konnte nicht noch jemand in dieses Geheimnis eingeweiht werden. Johann war schon eine Person zuviel. Er wollte nicht noch ein weiteres Leben gefährden. Selbst seinem Freund hätte er nicht die verfluchten Gegenstände zeigen dürfen. Und doch hatte er es getan, weil er keinen anderen Ausweg mehr sah.
„Warum denn nicht? Ich kann verstehen, wenn du mir nicht sagen willst, warum du so ein Geheimnis um beide Gegenstände machst. Aber ich muß Pascal doch erklären, was ich da mitnehme. Ich kann doch nicht sagen, daß ich es nicht weiß.“
Der blonde Junge hatte wahrlich Geduld mit seinem ägyptischen Freund gehabt, doch er konnte diese Geheimniskrämerei nicht länger ertragen. Vor Pascal brauchte Masut sich nicht zu fürchten. Noch durchschaute Johann ihn zwar nicht, aber er wußte, daß er dem jungen Tierpfleger vertrauen konnte.
„Ich kann es dir jetzt nicht erklären. Nimm die Sachen mit, wie ich dich bat.“
„Gut, aber wenn sich herausstellt, daß es Schmuggelware ist, habe ich damit nichts zu tun.“
Masut schüttelte den Kopf. Es hatte es zwar ins Land geschmuggelt, aber es war das Eigentum seiner Familie.
„Das gehört meiner Familie, seit vielen Zeiten.“
Mißtrauisch musterte ihn Johann. Masut entging dieser Blick nicht. Sollte sein Freund denken, was er wollte. Er würde so lange schweigen, wie es ihm möglich war. Niemand durfte unnötig in das Geheimnis eingeweiht und so in Gefahr gebracht werden. Wer auch immer in sein Zimmer eingedrungen war, kannte den Ort des Krugs und der Kette. Vielleicht war es Zufall gewesen und der unbekannte Eindringling hatte nicht bewußt danach gesucht, sondern war einfach neugierig gewesen, was sich unter dem Tuch verbarg. Doch dieser Unbekannte konnte reden und es möglicherweise demjenigen erzählen, vor dem er nach Europa geflohen war. Dieses Risiko durfte er nicht eingehen. Krug und Kette mußten verschwinden. Und wenn Johann zuviele Fragen stellen würde, müßte er sich eben selbst darum kümmern. Aber diese Gegenstände des Bösen mußten verschwinden, unter welchen Umständen auch immer.

12. Kapitel

Staunend stand Johann vor dem Löwen-Gehege. Faul lagen die Raubkatzen in ihrem Gehege und dösten, nur durch einen Wassergraben getrennt von den Besuchern. Wie war es möglich, daß hier die Löwen nicht hinter Gitter waren, wie es im Zoologischen Garten war? Der Zoologische, wie er von den Hamburgern genannt wurde, befand sich in der Nähe des Dammtor-Bahnhofs. Der bekannteste Direktor des zoologischen Tiergartens war Alfred Brehm gewesen, der nach einigen Jahren den Posten wegen Unstimmigkeiten abgegeben hatte. Obwohl dieser Zoo länger bestand als der Tierpark vor den Toren Hamburgs, mußte er geringere Besucherzahlen vorlieb nehmen. Vielleicht lag es an den revolutionären Gehegebauten, die hier in Hagenbecks Tierpark zu betrachten waren. Nicht Gitter trennte die Besucher von den Tieren, sondern Gräben. Sicherlich waren auch die Völkerschauen ein weiterer Grund, weshalb die Besucher strömten.
„Gefallen dir die Löwen?“, fragte jemand in seinem Rücken und legte Johann eine Hand auf die Schulter.
Der blonde Junge zuckte zusammen, erstarrte und hielt die Luft an. Ich bin entdeckt, ging es ihm durch den Kopf.
„So sprachlos, junger Herr?“
Neben Johann tauchte ein um einige Jahre älterer junger Mann auf, der im Tierpark zu arbeiten schien, er trug die typische Kleidung der Tierpfleger.
„Wollte nur gucken“, erwiderte Johann schnell. Seine Stimme zitterte und seine Zunge verhaspelte sich bei den Worten. „Eintrittskarte hab‘ ich verloren.“
„Danach habe ich dich gar nicht gefragt.“ Der junge Mann musterte Johann. „Hast du dich etwa rein geschmuggelt?“
Mit schreckgeweiteten Augen sah er den Tierpfleger an. Durch eine unbedachte Aussage hatte er sich selbst verraten. Alles würde auffliegen. Er müßte zurück aufs Schiff oder schlimmer noch, zurück zu seiner ungeliebten Tante. Hätte er nur geschwiegen! Bevor er weiter nachdachte, rannte er los, so schnell er konnte. Weit kam er nicht. Als er um die Ecke bog, stieß er mit einem Besucher zusammen und fiel hin.
„Paß auf, wo du hinläufst!“, hörte er den älteren Herrn sagen.
Bevor er aufgestanden war, wurde er unsanft am Kragen gepackt.
„So schnell entkommst du mir nicht, Freundchen!“
„Es ist doch nichts geschehen. Er hat nur nicht aufgepaßt, wohin er gelaufen ist.“ Die eben noch erregte Stimme des männlichen Besuchers klang nun sanfter und besorgt.
„Darum geht es nicht.“
Johann wurde am Kragen hochgezogen bis er auf seinen beiden Beinen stand. Dann spürte er einen harten Griff um sein Handgelenk, als würde Eisen es umfassen.
„Hat er was angestellt?“
„Nein, mein Bruder kann nur nicht gehorchen. Und nun gehen Sie weiter. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Aufenthalt in Hagenbecks Tierpark.“
Im Gesicht des Besuchers, mit dem Johann zusammengestoßen war, stieg die Zornesröte hoch. Ohne ein Wort ging er weiter.
Verdutzt sah Johann den Tierpfleger an. Hatte dieser gerade gelogen und ihn als seinen Bruder ausgegeben?
„Bruder? Wieso haben Sie das gesagt?“
„Mir ist auf die Schnelle nichts anderes eingefallen.“
„Wie wäre es mit der Wahrheit gewesen?“
Überraschte blickte der junge Mann Johann an. Mit dieser Frage hatte er nun gar nicht gerechnet. Aber ihn hatten schon ganz andere Dinge in letzter Zeit verwundert.
„Manchmal ist es besser, die Wahrheit nicht auszusprechen. Doch was ist die Wahrheit? Du machst blau und bleibst der Schule fern? Du hast dich hier rein geschmuggelt? Oder du versteckst dich bei den Ägyptern?“ Der Tierpfleger sah Johann an, der seinem Blick auswich und schnell den Kopf senkte. „Was ist denn nun die Wahrheit?“
Das Kinn des blonden Jungen wurde angehoben, daß er seinem Gegenüber direkt ins Gesicht sehen mußte.
„Was wollt ihr von mir?“
„Erst einmal deinen Namen.“
Johann wußte nicht, was er tun sollte. Seinen wahren Namen nennen? Lügen und hoffen, daß der Tierpfleger von ihm ablassen und ihn gehen lassen würde? Er konnte den jungen Mann nur schwer einschätzen.
Er schalt sich selbst einen Narren. Wäre er nur in dem Beduinendorf geblieben. Hätte er seiner Neugier nur nie nachgegeben. Sein Freund hatte Recht gehabt, als er ihn zurückhalten wollte. Doch er wollte nicht mehr länger einen Ägypter spielen, gefangen sein in diesem Schaudorf.
Er wollte Masut nicht enttäuschen, deshalb spielte er das Versteckspiel weiter, doch er wollte nicht mehr. Ewig aufpassen, daß er sich nicht verrät, daß er Gesicht und Hände mit Erde oder Kohle einschmiert. Er war es Leid, wollte es nicht mehr. Und so sagte er seinen Namen, egal welches Risiko sich daraus ergab.
„Johann“, sagte er matt.
„Gut, Johann, dann sag mir, was du hier machst und wie es kommt, daß du dich im Tierpark befindest, ohne daß du eine Eintrittskarte hast. Wie kommt es, daß der Wasserträger der Glasbläser verschwunden bist, während du hier vor mir stehst?“
Johanns Augen weiteten sich vor Erstaunen. Wie konnte es sein, daß dieser junge Tierpfleger wußte, wer er war? Hatte er sich durch irgend etwas verraten?
Verstohlen warf er einen Blick auf seine Hände und konnte keinen schwarzen Fleck erkennen. Vielleicht war in seinem Gesicht etwas zu sehen, doch hatte er es nicht gewissenhaft geprüft, bevor er das Beduinendorf verließ?
„Habe ich dich ertappt? Zugegeben, ich habe es nicht darauf angelegt, dein falsches Spiel herauszufinden. Mein Auftrag war, deinen Freund zu beobachten, ob er nicht doch noch irgendwelche Krankheitssymptome zeigt. Na ja, der scheint mir vollkommen gesund zu sein, aber mit dir schien etwas nicht zustimmen. Ich wußte nie, was es war, bis ich dich vorhin ohne deine Verkleidung gesehen habe.“ Ein kaum wahrnehmbares Lächeln erschien auf dem Gesicht des jungen Tierpflegers, als er daran zurückdachte, wie überrascht er gewesen war, daß sich der kleine unbeholfene Ägypter als blonder Junge entpuppte. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie erstaunt ich war. Ich wollte meinen Augen nicht trauen und fragte mich sogleich, wie du die medizinische Untersuchung hinter dich gebracht hast, ohne erwischt zu werden.“
„Ich habe mich versteckt.“
„Habe ich es mir doch gedacht, kluges Kerlchen. Der Doktor hätte den Schwindel sofort erkannt. Eines muß man dir lassen, du bist wirklich gewitzt.“
Johann wußte nicht, ob er dies als Kompliment verstehen sollte. Noch immer konnte er den jungen Tierpfleger nicht einschätzen. Anstatt ihn sofort zu melden, redete er mit ihm. Er fragte nicht einmal, wo er herkam. Stattdessen sprach er mit ihm, als sei er kein Dienstbote, sondern ein normaler Junge. Es war ewig her, daß Johann so zuvorkommend behandelt worden war. Damals hatte seine Mutter noch gelebt.
„Gehen wir zu deinem Freund. Auf dem Weg dorthin erzählst du mir, woher du kommst und wie es dazu kam, daß du als falscher Ägypter bei der Völkerschau gelandet bist.“
Johann verdrehte die Augen.
Das war genau das gewesen, was er eigentlich nicht tun wollte. Er wollte nicht zurück zu seiner ungeliebten Tante und deren Söhnen. Sie hatte ihn als billige Arbeitskraft verkauft. Genau das würde sie wieder tun, wenn er zu ihr zurückkehren mußte.