5. Kapitel

Stellingen
Stundenlang war die Karawane aus den Männern, Frauen und Kindern durch die Stadt kutschiert wurden. Ihr Weg führte unter anderem in die Großen Bleichen. Diese Straße war nicht grundlos gewählt worden, denn dort befand sich der Redaktionssitz des „Hamburger Fremdenblattes“. Mit eigenen Augen konnten sich Menschen wie Journalisten ein Bild von den ägyptischen Beduinen machen. Ihre Neugier würde entfacht und ein Besuch im Stellinger Tierpark geplant werden. Genau das, was sich der Direktor vorgestellt hatte.
Endlich war die Gruppe Beduinen an ihrem Zielpunkt angelangt. Masut fühlte sich erschöpft, ihm war schwindlig und er hatte Probleme, sich auf den Füßen zu halten. Zudem fror er, obwohl die Sonne vom Himmel schien. Johann hatte ihm von dem relativ gemäßigten Wetter erzählt. Doch das es so schlimm sei, hätte er nicht gedacht. Bibbernd stand er mit den anderen auf dem großen Platz und harrte der Dinge. Niemand wußte, was nun geschehen würde. Johann hatte ihm gesagt, daß  ein Arzt sie untersuchen wolle, ob sie gesund seien. Masuts kleiner Freund fürchtete sich davor untersucht zu werden. Der Arzt würde sofort erkennen, daß er kein Ägypter sei, sondern sich nur verkleidet hatte. Johanns Angst war berechtigt, daß wußte Masut, doch was sollte er tun, damit Johanns Tarnung nicht auffiel?
„Versteck dich.“
Johann sah sich die Umgebung an. Sie standen in der Mitte des Platzes. Schützendes Buschwerk oder ein Gebäude waren zu weit weg, als das er unerkannt sich verstecken konnte.
„Das geht nicht. Man wird mich entdecken.“
Verzweifelt sah der kleine blonde Junge mit dem geschwärzten Gesicht ihn an. Nun lag es an Masut, seinem Freund zu helfen. Doch was sollte er tun? Einen Streit anfangen? Das würde nicht nur die Abneigung der anderen gegen ihn steigern, sondern auch das Mißtrauen der Deutschen wecken. Schlimmstenfalls würden sie ihn wieder nach Hause schicken.
Bevor er weiter über eine Lösung nachdenken konnte, wurde ihm schwarz vor Augen. Alle Kraft wich aus seinen Beinen, er sank auf die Knie und fiel mit dem Gesicht in den Sand. Kurz bevor ihm die Sinne schwanden, merkte er, wie ihm jemand den Krug aus dem Arm nahm. Er wollte sich aufbäumen, die Person festhalten, die ihm das Gefäß nahm. Doch er hatte keine Kraft und versank in einer tiefen Dunkelheit.
„Unserem jungen Freund scheint die Fahrt nicht bekommen zu sein. Sein Kreislauf ist abgesunken. Die Blässe ist trotz seiner dunkleren Hautfarbe zu sehen. Wahrscheinlich wird er zu wenig getrunken haben und ist wegen des Flüssigkeitsmangels ohnmächtig geworden.“
„Also hat er keine ernsthafte Krankheit, Doktor?“ Der Mann wirkte erleichtert, blieb aber weiterhin skeptisch. „Wenn Sie sich täuschen und der Junge eine ansteckende Krankheit hat, wird das für uns alle, besonders für den Tierpark und die Völkerschauen, schwere Konsequenzen haben.“
Der Arzt mußte seine aufsteigende Wut unterdrücken. Wie konnte seine Diagnose von einem Laien angezweifelt werden?
„Ich bin nicht erst seit gestern Mdiziner“, versuchte er gute Miene zum bösen Spiel zu machen. „Wenn er eine ansteckende Krankheit hätte, wäre das sicherlich schon während der Überfahrt aufgefallen, da er alle anderen, samt der Schiffsbesatzung angesteckt hätte. Hat die Schiffsbesatzung über irgendwelche Krankheitssymptome geklagt? Haben die anderen Ägypter sich krank gefühlt oder ist jemand von ihnen ernsthaft erkrankt? Ist die Überfahrt anders verlaufen als sonst?“
Der Mann wußte nicht, was er sagen sollte. Kleinlaut blickte er zu Boden.
„Ich habe nicht gefragt. Aber das wäre mir dann auch gesagt worden.“
„Sie sind auf dem Schiff gewesen, also müßte Ihnen aufgefallen sein, wenn eine Krankheit unter den Ägyptern oder der Schiffsbesatzung grassierte. Da Ihnen nichts aufgefallen ist, wie mir scheint, wird niemand ernsthaft erkrankt sein. Der junge Mann hatte einen Schwächeanfall. Es gibt viele, die eine Stunden lange holprige Fahrt nicht vertragen. Er ist kerngesund.“
Der Mann sagte nichts mehr. All seine Zweifel waren von dem Arzt revidiert worden. Der Ägypter schien keine ernsthafte Krankheit zu haben, dennoch sollte er ihn weiter unter Beobachtung stellen. Das ließe sich machen. Er wüßte schon jemanden, der dies für ihn erledigen würde.
„Wenn Sie mich nun meine Arbeit machen lassen. Ich muß mich noch um die restlichen Neuankömmlinge kümmern.“
„Natürlich, Zeit ist kostbar“, sagte der Mann und verließ den Raum.
Masut öffnete langsam die Augen. Wo er war, konnte er nicht sagen, auch nicht, was geschehen war. Als er sich vorsichtig aufrichtete, sah er einen ihm unbekannten Mann und erschrak. Verängstigt sah er den Mann an, zugleich suchte er nach seinem Beutel, wo sich der Familienfluch drin befand.
„Keine Angst, junger Freund, dir geschieht nichts.“ Der Mann sprach langsam, doch Masut konnte ihm nicht folgen. Er hörte harte Silben, die aneinandergereiht eine harmonische Melodie ergaben. Was die  Worte bedeuteten, wußte er nicht, obwohl sie an sein Ohr drangen und er sie kannte. „Du bist ohnmächtig geworden.“
„Meine Sachen“, sagte Masut auf arabisch, das durch den ägyptischen Slang stark verwaschen klang. „Wo sind meine Sachen?“
Der Mann wirkte verwirrt, doch lächelte er weiter.
„Ich verstehe dich nicht, aber du brauchst keine Angst zu haben. Dir wird nichts geschehen.“
Der Arzt hatte schon viele Menschen untersucht, die ihre Heimat verlassen hatten. Sie waren verängstigt und voller Mißtrauen.
Masut war aufgesprungen, durchmaß den Raum und suchte unter der Liege nach dem Krug. Wäre er nicht von dem Arzt festgehalten worden, hätte er sich als nächstes die Schränke vorgenommen. Er hatte die Hand schon am Türknauf gehabt, als ihm der Arm nach hinten gerissen wurde. Er versuchte sich loszureißen, was ihm nicht gelang. Der Arzt war kräftiger als er ausgesehen hatte.
„Es reicht, Bürschchen!“, wurde er angefahren. Das Gesicht, das ihn zuvor noch lächelnd angesehen hatte, war zu einer wütenden Fratze verzerrt. Der Griff um seine Hände lockerte sich, dann wurde er am Kragen gepackt und nach draußen geschleift. „Ich habe doch gesagt, daß du vollkommen gesund bist. Das man mit euch immer solchen Ärger haben muß“, hörte er noch, bevor er zu Boden fiel und sein Gesicht hart auf dem Boden aufkam.
Langsam hob er seinen Kopf, spuckte die Erde aus, die in seinen Mund gekommen war und knirschende Geräusche von sich gab, wenn er die Zähne aufeinander biß. Niemand eilte zu Masut, um ihm aufzuhelfen. Mühsam richtete er sich allein auf und rieb sich seine schmerzenden Knie. Seine Hände hatte er sich aufgeschürft, doch die Schmerzen spürte er nicht. Als er aufsah, konnte er niemanden entdecken. Vollkommen allein stand er auf dem Platz. Wo waren die anderen? Hatte man sie fortgeführt und ihn vergessen? Ihn bei diesem Mann gelassen und seinen Krug und die Kette mitgenommen? Sie wußten nicht, was sie damit getan hatten. Der Hauch des Todes hing über ihnen. Und wo war Johann? War er mit den anderen gegangen oder hatte er sich unentdeckt entfernen können?
Aufgeschreckt fuhr er herum, als er es im Gebüsch rascheln hörte. Gebannt starrte er auf das Buschwerk. Die Blätter bewegten sich, Äste wurden auseinander geschoben und Johann trat aus dem Gebüsch. Lachend sah er Masut an, der wie angewurzelt ihn anstarrte und sich nicht von der Stelle bewegte.
„Damit hast du nicht gerechnet. Als du umgefallen bist, habe ich den Moment der Verwirrung genutzt und bin im Gebüsch verschwunden.
„Die anderen?“, fragte Masut, der noch nicht ganz realisieren konnte, was geschehen war.
„Die wurden auf die andere Seite des Hauses gebracht. Dort sollen sie untersucht werden und kommen dann wieder her, wenn sie gesund sind. Aber die sehen recht gesund aus.“ Johann schwieg. Dann sah er Masut an, als wolle er ihn etwas fragen, doch traue er sich nicht. Betreten sah er zu Boden, zeichnete mit seinen Schuhen ein Muster in die fest getrampelte Erde, indem er die Oberfläche aufraute. „Hast du nicht das getan, was von dir verlangt wurde oder warum hat der Arzt dich so vor die Tür gesetzt?“
Masut konnte seinem Freund nicht ganz folgen, verstand nicht jedes Wort, aber den ungefähren Sinn der Frage.
„Die haben mir den Sack abgenommen. Den suchte ich. Schien dem Arzt nicht zu gefallen. Er wurde wütend.“
Johanns Gesicht erhellte sich und er ging zum Gebüsch zurück. Masut sah ihm sprachlos zu und runzelte die Stirn, als Johann kurz im Gebüsch verschwand und anschließend mit seinem Beutel, den er wie seinen Augapfel während der Überfahrt gehütet hatte, in der Hand zurück kam.
„Meinst du den?“ Ohne ein Wort zu sagen, riß Masut ihm den Beutel aus der Hand und sah sich den Inhalt an. Die Kette hing noch am Henkel des Kruges und der Wachspfrofen schien unversehrt. „Hättest dich wenigstens bedanken können“, sagte Johann vorwurfsvoll. Masut hob kurz den Kopf, sah sich dann wieder den Krug an. „Keine Angst, es ist alles noch so, wie es war. Es fehlt nichts und ich habe auch nicht angefaßt. Ich weiß nicht einmal, was du da drin hast. Nur das es etwas Schweres ist.“
„Später sage ich es dir, nicht heute. Ist eine lange Geschichte.“
„Was hat keine Geschichte?“, sagte Masuts Freund mehr zu sich selbst und wurde traurig. „Selbst ich habe in meinem jungen Leben schon eine Geschichte zu erzählen. Doch ich will sie nicht erzählen, nur vergessen.“ Er wollte nicht daran denken, den Teil seines jungen Lebens vergessen, doch er konnte es nicht. Selbst jetzt nicht, wo ein neuer Abschnitt begonnen hatte, mußte er noch daran denken. Es war ein Teil seines Lebens und würde es immer bleiben, auch wenn er versuchte zu vergessen.
„Irgendwann zeige ich dir, was ich hier habe. Jetzt ist es zu früh.“
Masuts Worte machten Johann neugierig und er versuchte zu erfahren, was es mit dem Gegenstand im Beutel auf sich hatte.
„Hast du den Familienschatz mitgenommen, um dich damit abzusetzen?“
„Nein!“, sagte Masut und Johann merkte an seiner ablehnenden Antwort, das er nicht weiter über das Thema sprechen wollte.
Die Tür des Hauses öffnete sich und bevor Johann weiter darüber nachdachte, wurde er von Masut zurück ins Gebüsch geworfen. Die scharfen Äste zerkratzten sein Gesicht und die Hände. Von seinem Versteck aus beobachtete er, wie die ersten Ägypter aus dem Haus traten.

4. Kapitel

Hamburg-Hafen, 1912
Das Schiff hatte im Hafen der Segelschiffe angelegt und war mit gekonnten Griffen vertäut worden. Gleich darauf waren Masut und seine Begleiter mit harschen Worten aufgefordert worden sich bereit zu machen, das Schiff zu verlassen.
Johann stand neben Masut, sein Gesicht, seine Hände und seine Beine waren mit nassem Kohlenstaub eingerieben worden. Seine blonden Haare waren unter einem Tuch verborgen, sie hatten sich nicht färben lassen können. Auf den ersten Blick wirkte er wie einer von ihnen. Wie ein Ägypter. Dennoch hielt sich Johann nahe bei Masut auf, der ihn in die Mitte der Gruppe schob, damit er unauffällig in der Masse verschwand. Zuvor hatte er ihm eingebläut, niemanden direkt anzusehen, damit seine blauen Augen nicht auffielen.
Die Luke wurde geöffnet und grelles Licht drang in den Laderaum. Die Ägypter schlossen die Augen und öffneten sie nur langsam.
„Raus mit euch!“, forderte eine Stimme die Gruppe auf.
Einen Fuß vor den anderen setzend stiegen die Ägypter die Stufen hinauf bis sie sich auf dem Deck des Segelschiffes befanden.
Masut hatte die Person wiedererkannt, der ihn und die anderen angeworben hatte. Er schien ein freundlicher Mann zu sein. Als er in ihr Dorf gekommen war, hatte er niemanden gezwungen mitzukommen. Ausführlich hatte er geschildert, was einen in der fernen Welt erwarten würde.
Nie wurde jemand gedrängt, das er bei diesem Unternehmen, das einem Abenteuer glich, mitmachen sollte. Doch es waren auch Ablehnungen ausgesprochen worden, vor allem gegen die, die nur das Geld im Kopf gehabt hatten. Natürlich hatte es verlockend geklungen, auf dieser Reise auch etwas zu verdienen. Doch war es das Geld wirklich wert, vor allem bei den Risiken, die diese Reise barg? Für Masut hatte es keine Sekunde des Zögerns gegeben. Zuhause konnte er auch sterben, der Fluch, der auf seiner Familie lastete, würde ihn eines Tages genauso treffen, wie seinen Bruder, seinen Vater und seine Vorfahren. Wenn er in der Fremde starb, sollte es so sein, aber er hätte die Gegenstände des Unglücks außer Landes, fern von seiner Familie, gebracht.
„Wir werden sie nach Stellingen bringen. Der Arzt ist verhindert, um sie sich noch zuvor anzusehen“, sagte der Mann, der soeben das Schiff betreten hatte und auf den Anwerber zugegangen war.
„Gut, hoffen wir, daß alle gesund sind.“ Anzeichen dafür hatte es auf der Rese keine gegeben, allerdings mußte das noch lange nichts heißen. Nach der ärztlichen Untersuchung würden sie mehr wissen. Aber er hatte ein gutes Gefühl.
Der eben eingetroffene machte ein Zeichen und die Gruppe Ägypter wurde vom Schiff auf mehrere Lastenwagen getrieben.
„Wie viele sind es?“
Der Anwerber holte ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus seiner Jacke. Es war dicht beschrieben, doch am Ende waren einige Ziffern unterstrichen.
„59 Männer, 13 Frauen und 18 Kinder. Nicht zu vergessen die acht Derwische.“
„Daraus läßt sich etwas machen. Bei den zwei Eskimos sind die Besucher doch recht enttäuscht gewesen. Die Anzeigen in den Zeitungen hatten mehr versprochen als eigentlich geboten wurde.“
„Ja, so was kann vorkommen. Nicht jeder will sich ins Ungewisse aufmachen, da kann man so sehr zureden wie man möchte, doch man kann niemanden zwingen.“
„Würde auch nur Ärger bringen.“
Die beiden Männer verabschiedeten sich vom Kapitän und verließen das Schiff. Der Kapitän sah ihnen kurz hinterher. Als die Gruppe Ägypter sich in Zweierreihen formiert hatte und der Zug sich schließlich in Bewegung setzte, wendete er sich ab.
„Habt ihr Johann gesehen?“, wollte er von zwei Matrosen wissen.
„Den Zwerg? Nee, seit gestern nich'“, sagte einer der beiden im breitesten hamburgisch.
„Dann sucht ihn. Ich habe mit ihm zu reden.“
„Was hat er denn ausgefressen?“, wollte der andere wissen.
„Nichts. Holt ihn mir einfach her.“
Mit ungutem Gefühl ging der Kapitän in seine Kajüte. Viel zu lange hatte er seinen Schiffjungen vernachlässigt, ihn von den Matrosen demütigen lassen. War nicht eingeschritten, wenn er Arbeiten erledigen sollte, für die er in seinem Alter noch gar nicht die Kraft besaß. Von Anfang an war ihm aufgefallen, daß dem Jungen die Arbeit nicht gefiel, dennoch hatte er begierig alles aufgesogen, was er erfahren konnte.
De Entscheiduhg, die er sich überlegt hatte, war gut durchdacht. Der Kapitän wollte ihn wieder zur Schule schicken, dann vielleicht auf die höhere Handelsschule. Möglicherweise würde er ihn adoptieren. Johannes Eltern waren tot und die Tante hatte ihn wie ein Stück Vieh verkauft.
Er wurde aus seinen Gedanken gerissen. Jemand hatte an seine Kajütentür geklopft und war eingetreten.
„Der Junge ist weg! Wir haben alles abgesucht. Er ist verschwunden.“
„Danke, kannst gehen“, sagte der Kapitän matt. Resigniert starrte er auf den Michel, die Kirche St. Michaelis, das Wahrzeichen Hamburgs, das nach einem Brand wieder aufgebaut worden war und in wenigen Monaten feierlich wiedereröffnet werden sollte. Er hatte zu lange gezögert, hätte Johann schon früher in seine Pläne einweihen müssen. Nun war es zu spät. Er wußte, Johann würde er nie wiedersehen.

1. Kapitel

Nordsee, 1912
Das Schiff schaukelte stark. Masut saß unter Deck und umklammerte einen mit Stoff verhüllten Gegenstand. Weiß war der Stoff einmal gewesen, nun hatte er sich durch die lange Reise gräulich verfärbt. Nie gab er den Gegenstand aus der Hand oder ließ ihn unbeobachtet liegen. Von den anderen wurde er wegen seines seltsamen Verhaltens ausgelacht, verspottet oder einfach nur schief angesehen. Ihn störte es nicht weiter, sollten die anderen ihn für verrückt halten, er würde seine Aufgabe erfüllen.
Seine Familie war durch den Gegenstand, den er wie seinen Augapfel hütete, in ständiger Todesgefahr. Immer wieder waren Mitglieder seiner Familie bedroht und ermordet worden. Dies begann, als seine Vorfahren in den Besitz dieses Gegenstandes gelangten.
Es war nach Ende der Regierungszeit Echnatons, des verfemten Pharaos, gewesen. Seine Vorfahren hatten zum königlichen Kreis in Achet Aton gehört. Erst als Leibdiener, später als Berater des Pharaos. Für jemanden, der seine wahre Herkunft verleugnen mußte und ausgab, aus dem niederen Stand der Fellachen zu stammen, einer Bevölkerungsschicht, die zu Zeiten der Pharaonen zu allerlei Frondiensten herangezogen wurden, war dies ein großes Privileg gewesen. Sein Vater hatte ihn auf die Schreibschule geschickt, wo man sein Talent und Geschick erkannt hatte. Und so war er an den Hof des Pharaos zurückgekehrt, den Ort, an dem seine Vorfahren gelebt und geherrscht hatten.
Masuts Vorfahr hatte die Zeit des verfemten Pharaos miterlebt und nach dem Tode Echnatons und seiner nächsten Angehörigen seine Lebensgeschichte aufgeschrieben. Allerdings wurde er schon bald danach bedroht, ein Mordanschlag auf ihn verübt, dem er nur mit Glück entkommen konnte. Als er seine Lebensgeschichte am Hofe des verfemten Pharaos beendet hatte, traten Ereignisse ein, die ihn zwangen,  Hals über Kopf aus Achet Aton zu fliehen. Die Rollen hatte er in ein Gefäß gesteckt und versiegelt, daß jeder denken sollte, es handle sich um einen Weinkrug. Doch ganz egal, wohin er ging, die Schergen des neuen Pharaos spürten ihn immer wieder auf, nirgendwo war er sicher. Als er eine Frau kennen lernte und mit ihr eine Familie gründete, fertigte er eine Abschrift der Rollen an und übergab sie seinen Verfolgern. Er hoffte, seine Verfolger würden von ihm ablassen und sein Leben und das seiner Familie verschonen.
Von da an hatte er Ruhe und mußte nicht mehr um sein Leben fürchten, bis zu dem Tag, an dem er seinem ältesten Sohn einen Ring, eine Kette und die Originalrollen übergab. Wieder wurde er bedroht und verfolgt. Die lange Zeit der Ruhe und der Sicherheit war trügerisch gewesen und nun endgültig vorbei.
Es begann von Neuem. Doch er war des Kämpfens müde, wollte nicht mehr fliehen und sich nirgendwo sicher fühlen. Er ließ sich im Nildelta nieder und wartete auf seinen Tod, der ihn schneller ereilte, als er es vermutet hatte. Seine Nachfahren, die Vorfahren Masuts, gaben das Geheimnis der Rollen an ihren jeweils ältesten Sohn weiter, der die Rollen schützen und bewachen sollte. Viele gaben ihr Leben für die Rollen, selbst als das Pharaonenreich zusammenbrach und Ägypten römische Provinz wurde, war seine Familie nicht sicher. Die Rollen bestimmten maßgeblich das Leben seiner Familie.
Lange Zeit war nichts geschehen, doch als sein Vater und seine ältereren Brüder kurz hintereinander starben, war Masut entschlossen, die Rollen außer Landes zu bringen, an einen Ort, wo niemand die Wahrheit erfahren könnte. Doch nicht nur von den Rollen ging eine Gefahr aus, sondern auch von der Kette, von der die Legende sagte, daß Nofretete, die Gemahlin des verfemten Pharaos, sie Masuts Vorfahren übergeben hätte. Die Kette durfte nicht getragen werden. Wer sie trug, war innerhalb weniger Tage oder Wochen tot.
Über lange Zeit, war sich der junge Ägypter nicht im Klaren darüber, wie er die verfluchten Gegenstände außer Landes bringen sollte. Die Gelegenheit dazu ergab sich schon sehr bald. Als fremde Männer in sein Dorf kamen und von einem fernen Land sprachen, daß die Lebensweise seines Volkes kennen lernen wollte, bemühte er sich, in die Gruppe zu gelangen, um die Rollen, die das Leben seiner Familie bedrohten, für immer verschwinden zu lassen.
Noch während er sich von seiner Familie verabschiedete und schließlich das Schiff bestieg, das ihn und seine Mitstreiter nach Deutschland bringen sollten, wußte er, daß er nie mehr wiederkehren würde.
Völkerausstellungen nannte sich, wofür er sich gemeldet hatte. Einige Menschen eines Volkes kamen in einen Zoo, wo sie in einer möglichst naturgetreuen Umgebung den dortigen Menschen ihr Stammesleben näherbringen sollten. Oft waren diese Menschen nur Angaffungsobjekte der Besucher, die oft nicht die eigenen Landesgrenzen verließen, wenn sie überhaupt aus der Stadt oder dem Dorf rauskamen.
Masut fürchtete sich vor der großen Reise. Seine Familie hatte er zurückgelassen und machte sich nun allein auf eine Fahrt ins Unbekannte. Andererseits war er unglaublich erleichtert darüber, daß niemand ihn zu verfolgen schien. Es mußte ihm gelungen sein, die Verfolger abzuschütteln. Wahrscheinlich vermuteten sie die Gegenstände noch bei seiner Familie.
Seine Reisegefährten mieden ihn, wenn sie ihn nicht gerade verspotteten. Sie hatten ihn nicht dabei haben wollen, da er ihnen nur Unglück brächte. Das Schicksal seiner Familie war ihnen allen bekannt, schließlich kam es nicht häufig vor, daß jemand ermordet wurde. Das dies in einer Familie der Normalfall war, konnte nichts Gutes bedeuten. Sie mußten den Gott der Wüste, Seth, erzürnt haben. Auch wenn das Christentum und der Islam den heidnischen Götterglauben abgelöst hatten, glaubte man dennoch, daß Seth, der Gott des Bösen, sich gegen die Familie gewandt hatte. Aus diesem Grund hatte der Urururgroßvater Masuts den Rollen die Bezeichnung Die Rollen des Seth gegeben.
Das Amulett des Todes hatte Masut an den Henkel des Kruges befestigt. Er traute sich nicht, die Kette mit den Rollen zusammenzubringen, obwohl er nicht daran glaubte, daß unglückbringende Gegenstände zusammen noch größeres Unglück brächten.
Wasser drang ein und ließ Masut aus seinen Gedanken aufschrecken. Sollte er hier sterben? Während eines Sturms mit dem Schiff untergehen? War seine Stunde bereits gekommen? Sollte er die Rollen über Bord werfen und hoffen, daß der Tonkrug untergehen würde?
„Hast du nicht verstanden?“ Ein Mann faßte ihn grob am Arm. „Wasser schöpfen! Verstanden?“ Der Mann mit Vollbart und der knurrigen Stimme drückte ihm eine Schüssel in die Hand und schubste ihn, daß Masut beinahe hinfiel und sich nur mit Mühe auf den Beinen halten konnte. „Schöpfen!“, schrie der Mann ihn an und wies auf die Wasserlachen am Boden. Masut nickte und machte sich an die Arbeit.
Er verstand die Sprache der Weißen ein wenig. Nachdem er aufs Schiff gekommen war, hatte er sich mit einem kleinen Jungen, einige Jahre jünger als er, angefreundet, der auf dem Schiff arbeitete und von den Matrosen schlecht behandelt wurde. Dankbar für sein freundliches Auftreten, brachte der Junge ihm die deutsche Sprache bei, im Gegenzug versuchte Masut dem Jungen, der auf den Namen Johann hörte, ein wenig das Arabische beizubringen. Masut war ein gelehriger Schüler und ihm fiel es leicht, die Sprache zu erlernen, nur einige Laute, die Johann als Umlaute bezeichnete, machten ihm Schwierigkeiten. Lange blieb nicht verborgen, daß Masut Deutsch verstand, so daß er als Übersetzer für seine Landsleute fungieren sollte. Die waren von der Idee nicht sehr begeistert und reagierten mit Ablehnung, doch ihnen blieb keine andere Wahl als den Bestimmungen der weißen Männer zu folgen. Diese Entscheidung verbesserte Masuts Rang innerhalb seiner Landsleute keineswegs. Stattdessen wurde er nur noch mehr gemieden, doch ihn störte es nicht. Sollten sie ihn nur in Ruhe lassen, dann würden sie sich auch nicht für den Inhalt des Gegenstandes interessieren, den er immer bei sich trug.
Wieder schien Licht durch die Öffnung der Luke. Als Masut hochsah, entdeckte er einen Kopf mit blondem Haar.
„Morgen oder übermorgen sind wir da“. Johann stieg die Leiter herunter, sein Gesicht wirkte traurig, das konnte Masut trotz des dämmrigen Lichts erkennen. „Dann sehen wir uns nie wieder“.
Traurig umarmte Johann den jungen Ägypter. Dieser tätschelte ihm hilflos den Kopf, wußte nicht, wie er seinen Freund aufheitern sollte. Nie hatte er sich während der Überfahrt Gedanken gemacht, daß der Junge in ihm einen Freund sah, den er durch das Ende der Überfahrt nun verlor.
Johann hatte seine Eltern verloren, als er sieben war und zu einer Tante gekommen, die ihn schnellstens wieder loswerden sollte. Mit zehn Jahren hatte sie ihn an den Kapitän dieses Schiffes verkauft, wo er seitdem jeden Tag bis zur Erschöpfung arbeitete und der Spielball der Matrosen war. Es mußte ein furchtbares Leben sein. Obwohl Masut nur wenig mitbekommen hatte, war ihm nicht entgangen, daß Johann nicht glücklich mit seinem Leben war.
„Komm mit“, kam es aus Masuts Mund, bevor er über die Worte nachdenken konnte. Johanns Augen wurden groß und größer vor Verwunderung, dann lächelte er.
„Meinst du wirklich? Ich soll euch begleiten?“ Sein Lachen verschwand so schnell, wie es auf sein Gesicht gekommen war, dann wandte er sich traurig ab. „Es geht nicht. Ich sehe völlig anders aus.“
Der Ägypter legte seinem Freund mitfühlend eine Hand auf die Schulter. Er mußte seinem Freund helfen, wenn er ihn nicht enttäuschen wollte. Er spürte die Traurigkeit, die sein Gegenüber erfaßt hatte. Wie sollte er ihm helfen? Er trat einen Schritt zurück und betrachtete Johann. Der Junge war von schmaler Statur, hatte strohblonde Haare und eine helle Haut. Ein schwarzer Strich ging über sein Gesicht. Mit dieser blassen Haut würde Johann nie mit ihnen kommen können. Doch so schnell gab Masut nicht auf. Wenn sein Freund mit ihm kommen wollte, sollte es nicht an seinem Aussehen scheitern. Noch einmal betrachtete er Johann. Die Farbe seiner Haut mußte dunkler werden, daran bestand kein Zweifel. Der dunkle Strich, der Johanns Gesicht durchzog, fiel ihm ins Auge. Er strich über den dunklen Fleck und sah sich seinen Finger an. Dunkler Staub haftete an diesem, den er nun verrieb bis er verschwunden war.
„Was ist das?“, fragte er, da er keine Vorstellung davon hatte, wie Johann unauffällig das Schiff verlassen konnte. Der dunkle Fleck hatte aber eine Gedanken in seinem Kopf ausgelöst, der langsam zu einer Idee heranreifte.
„Kohlenstaub. Ich mußte Kohle schippen, damit der Kapitän es warm hat in seiner Kajüte. Ihr natürlich auch. Warum fragst du?“
„Mir ist eine Idee gekommen. Du wirst mit mir das Schiff verlassen, wie ich gesagt habe“.
„Und wie? Sag’s mir!“
Johann hatte den Arm seines Freundes ergriffen und drückte und zog ihn ungeduldig, das Masut schmerzhaft das Gesicht verzog. Er nahm es dem Blondschopf nicht übel. Er wußte, welche Erleichterung es für Johann sein würde, endlich das Schiff verlassen zu können.
„Du wirst dich einreiben – mit Kohle.“
Ungläubig starrte Johann ihn an. Wie sollte das gehen? Kohle hielt nicht ewig auf der Haut. Es müßte immer erneuert werden. Und was sollte geschehen, wenn die Gruppe wieder in die Heimat reisen würde? Er konnte doch nicht mit nach Ägypten. Dort gehörte er nicht hin, aber auf dieses Schiff gehörte er noch weniger.
„Wie soll das gehen? Wenn ich euch begleiten soll, muß ich mich immer wieder mit Kohle einreiben. Wie willst du diese Kohle mitnehmen, ohne daß es auffällt? Wie falle ich nicht auf? Die anderen werden doch merken, daß ich nicht zu euch gehöre. Das ist absolut unmöglich. Es geht nicht.“
Masut mußte lachen. Johann machte sich viel zu viele Gedanken. Er hatte nicht alles verstanden, was sein Freund ihm gesagt hatte, aber all diese Sorgen brauchte er sich nicht zu machen. Er sollte die Dinge auf sich zukommen lassen, dann würde man sehen. Entdeckt würde Johann sicherlich, aber er war erst einmal von dem Schiff runter, wo er sich nicht wohl fühlte.
„Warte ab. Die Zeit wird es zeigen. Dein Schicksal wird dich führen.“
„Schicksal?“ Johann war sprachlos. An so etwas wie Schicksal glaubte er nicht. Seit dem Tod seiner Eltern war all das Unglück über ihn hereingebrochen, wie er es sich in seinem noch jungen Leben nicht hatte vorstellen können. Doch was sollte er erwarten? Schlimmer als sein bisheriges Leben konnte es nicht werden.
„Schicksal, genau. Es hat gewollt, daß wir uns treffen. Es wird dafür sorgen, daß du mit mir kommst.“ Masut spürte, daß Johann nicht ganz überzeugt war. Die Idee schien ihm zu gefallen, doch er wußte nicht, was ihn erwartete, was aus ihm würde, wenn diese Völkerschau vorüber war. Dies wußte Masut selbst nicht, dennoch wollte er Johann nicht entmutigen. „Du wirst sehen, es wird alles gut werden.“
Johanns Augen begannen zu leuchten. Endlich war der Augenblick gekommen, wo er dieses Schiff verlassen konnte. Seitdem im April die Titanic, die als das modernste Schiff ihrer Zeit galt, mit einem Eisberg kollidiert und gesunken war, obwohl sie als unsinkbar galt, hatte Johann bei jeder Fahrt Angst, daß etwas passieren könnte. Was ihn noch erwarten würde, darüber machte er sich keine Gedanken. Er war beseelt von dem Gedanken mit seinem neuen Freund gemeinsam das Schiff zu verlassen.
„Dann hole ich die Kohle. Um diese Zeit haben alle mit sich zu tun, und das Vorratslager wird erst am Ende der Reise überprüft. Es wird niemandem auffallen, daß ein paar Stücke fehlen.“
Schnell rannte er zur Luke, sah sich noch einmal kurz um und verschwand in einem hellen Loch.
Masut blieb allein zurück, ganz allein war er nicht, seine Dorfnachbarn befanden sich am Ende des Raums und unterhielten sich angeregt. Als er sich mit Johann unterhalten hatte, war er von den anderen argwöhnisch beäugt worden. Glücklicherweise hatten sie nicht verstanden, worüber sie sich unterhalten hatten. Dazu hätten sie der Sprache mächtig sein müssen und das waren sie nicht. Verstanden allenfalls einige Wörter, doch einem Gespräch konnten sie nicht folgen. Aber es würde schwierig werden, Johann als einen der ihren auszugeben. Sie würden ihn nicht akzeptieren, ihn eventuell sogar auszuliefern. Dies mußte er verhindern und dazu würde ihm der Unheilsbringer in seiner Hand helfen.