5. Kapitel

Stellingen
Stundenlang war die Karawane aus den Männern, Frauen und Kindern durch die Stadt kutschiert wurden. Ihr Weg führte unter anderem in die Großen Bleichen. Diese Straße war nicht grundlos gewählt worden, denn dort befand sich der Redaktionssitz des „Hamburger Fremdenblattes“. Mit eigenen Augen konnten sich Menschen wie Journalisten ein Bild von den ägyptischen Beduinen machen. Ihre Neugier würde entfacht und ein Besuch im Stellinger Tierpark geplant werden. Genau das, was sich der Direktor vorgestellt hatte.
Endlich war die Gruppe Beduinen an ihrem Zielpunkt angelangt. Masut fühlte sich erschöpft, ihm war schwindlig und er hatte Probleme, sich auf den Füßen zu halten. Zudem fror er, obwohl die Sonne vom Himmel schien. Johann hatte ihm von dem relativ gemäßigten Wetter erzählt. Doch das es so schlimm sei, hätte er nicht gedacht. Bibbernd stand er mit den anderen auf dem großen Platz und harrte der Dinge. Niemand wußte, was nun geschehen würde. Johann hatte ihm gesagt, daß  ein Arzt sie untersuchen wolle, ob sie gesund seien. Masuts kleiner Freund fürchtete sich davor untersucht zu werden. Der Arzt würde sofort erkennen, daß er kein Ägypter sei, sondern sich nur verkleidet hatte. Johanns Angst war berechtigt, daß wußte Masut, doch was sollte er tun, damit Johanns Tarnung nicht auffiel?
„Versteck dich.“
Johann sah sich die Umgebung an. Sie standen in der Mitte des Platzes. Schützendes Buschwerk oder ein Gebäude waren zu weit weg, als das er unerkannt sich verstecken konnte.
„Das geht nicht. Man wird mich entdecken.“
Verzweifelt sah der kleine blonde Junge mit dem geschwärzten Gesicht ihn an. Nun lag es an Masut, seinem Freund zu helfen. Doch was sollte er tun? Einen Streit anfangen? Das würde nicht nur die Abneigung der anderen gegen ihn steigern, sondern auch das Mißtrauen der Deutschen wecken. Schlimmstenfalls würden sie ihn wieder nach Hause schicken.
Bevor er weiter über eine Lösung nachdenken konnte, wurde ihm schwarz vor Augen. Alle Kraft wich aus seinen Beinen, er sank auf die Knie und fiel mit dem Gesicht in den Sand. Kurz bevor ihm die Sinne schwanden, merkte er, wie ihm jemand den Krug aus dem Arm nahm. Er wollte sich aufbäumen, die Person festhalten, die ihm das Gefäß nahm. Doch er hatte keine Kraft und versank in einer tiefen Dunkelheit.
„Unserem jungen Freund scheint die Fahrt nicht bekommen zu sein. Sein Kreislauf ist abgesunken. Die Blässe ist trotz seiner dunkleren Hautfarbe zu sehen. Wahrscheinlich wird er zu wenig getrunken haben und ist wegen des Flüssigkeitsmangels ohnmächtig geworden.“
„Also hat er keine ernsthafte Krankheit, Doktor?“ Der Mann wirkte erleichtert, blieb aber weiterhin skeptisch. „Wenn Sie sich täuschen und der Junge eine ansteckende Krankheit hat, wird das für uns alle, besonders für den Tierpark und die Völkerschauen, schwere Konsequenzen haben.“
Der Arzt mußte seine aufsteigende Wut unterdrücken. Wie konnte seine Diagnose von einem Laien angezweifelt werden?
„Ich bin nicht erst seit gestern Mdiziner“, versuchte er gute Miene zum bösen Spiel zu machen. „Wenn er eine ansteckende Krankheit hätte, wäre das sicherlich schon während der Überfahrt aufgefallen, da er alle anderen, samt der Schiffsbesatzung angesteckt hätte. Hat die Schiffsbesatzung über irgendwelche Krankheitssymptome geklagt? Haben die anderen Ägypter sich krank gefühlt oder ist jemand von ihnen ernsthaft erkrankt? Ist die Überfahrt anders verlaufen als sonst?“
Der Mann wußte nicht, was er sagen sollte. Kleinlaut blickte er zu Boden.
„Ich habe nicht gefragt. Aber das wäre mir dann auch gesagt worden.“
„Sie sind auf dem Schiff gewesen, also müßte Ihnen aufgefallen sein, wenn eine Krankheit unter den Ägyptern oder der Schiffsbesatzung grassierte. Da Ihnen nichts aufgefallen ist, wie mir scheint, wird niemand ernsthaft erkrankt sein. Der junge Mann hatte einen Schwächeanfall. Es gibt viele, die eine Stunden lange holprige Fahrt nicht vertragen. Er ist kerngesund.“
Der Mann sagte nichts mehr. All seine Zweifel waren von dem Arzt revidiert worden. Der Ägypter schien keine ernsthafte Krankheit zu haben, dennoch sollte er ihn weiter unter Beobachtung stellen. Das ließe sich machen. Er wüßte schon jemanden, der dies für ihn erledigen würde.
„Wenn Sie mich nun meine Arbeit machen lassen. Ich muß mich noch um die restlichen Neuankömmlinge kümmern.“
„Natürlich, Zeit ist kostbar“, sagte der Mann und verließ den Raum.
Masut öffnete langsam die Augen. Wo er war, konnte er nicht sagen, auch nicht, was geschehen war. Als er sich vorsichtig aufrichtete, sah er einen ihm unbekannten Mann und erschrak. Verängstigt sah er den Mann an, zugleich suchte er nach seinem Beutel, wo sich der Familienfluch drin befand.
„Keine Angst, junger Freund, dir geschieht nichts.“ Der Mann sprach langsam, doch Masut konnte ihm nicht folgen. Er hörte harte Silben, die aneinandergereiht eine harmonische Melodie ergaben. Was die  Worte bedeuteten, wußte er nicht, obwohl sie an sein Ohr drangen und er sie kannte. „Du bist ohnmächtig geworden.“
„Meine Sachen“, sagte Masut auf arabisch, das durch den ägyptischen Slang stark verwaschen klang. „Wo sind meine Sachen?“
Der Mann wirkte verwirrt, doch lächelte er weiter.
„Ich verstehe dich nicht, aber du brauchst keine Angst zu haben. Dir wird nichts geschehen.“
Der Arzt hatte schon viele Menschen untersucht, die ihre Heimat verlassen hatten. Sie waren verängstigt und voller Mißtrauen.
Masut war aufgesprungen, durchmaß den Raum und suchte unter der Liege nach dem Krug. Wäre er nicht von dem Arzt festgehalten worden, hätte er sich als nächstes die Schränke vorgenommen. Er hatte die Hand schon am Türknauf gehabt, als ihm der Arm nach hinten gerissen wurde. Er versuchte sich loszureißen, was ihm nicht gelang. Der Arzt war kräftiger als er ausgesehen hatte.
„Es reicht, Bürschchen!“, wurde er angefahren. Das Gesicht, das ihn zuvor noch lächelnd angesehen hatte, war zu einer wütenden Fratze verzerrt. Der Griff um seine Hände lockerte sich, dann wurde er am Kragen gepackt und nach draußen geschleift. „Ich habe doch gesagt, daß du vollkommen gesund bist. Das man mit euch immer solchen Ärger haben muß“, hörte er noch, bevor er zu Boden fiel und sein Gesicht hart auf dem Boden aufkam.
Langsam hob er seinen Kopf, spuckte die Erde aus, die in seinen Mund gekommen war und knirschende Geräusche von sich gab, wenn er die Zähne aufeinander biß. Niemand eilte zu Masut, um ihm aufzuhelfen. Mühsam richtete er sich allein auf und rieb sich seine schmerzenden Knie. Seine Hände hatte er sich aufgeschürft, doch die Schmerzen spürte er nicht. Als er aufsah, konnte er niemanden entdecken. Vollkommen allein stand er auf dem Platz. Wo waren die anderen? Hatte man sie fortgeführt und ihn vergessen? Ihn bei diesem Mann gelassen und seinen Krug und die Kette mitgenommen? Sie wußten nicht, was sie damit getan hatten. Der Hauch des Todes hing über ihnen. Und wo war Johann? War er mit den anderen gegangen oder hatte er sich unentdeckt entfernen können?
Aufgeschreckt fuhr er herum, als er es im Gebüsch rascheln hörte. Gebannt starrte er auf das Buschwerk. Die Blätter bewegten sich, Äste wurden auseinander geschoben und Johann trat aus dem Gebüsch. Lachend sah er Masut an, der wie angewurzelt ihn anstarrte und sich nicht von der Stelle bewegte.
„Damit hast du nicht gerechnet. Als du umgefallen bist, habe ich den Moment der Verwirrung genutzt und bin im Gebüsch verschwunden.
„Die anderen?“, fragte Masut, der noch nicht ganz realisieren konnte, was geschehen war.
„Die wurden auf die andere Seite des Hauses gebracht. Dort sollen sie untersucht werden und kommen dann wieder her, wenn sie gesund sind. Aber die sehen recht gesund aus.“ Johann schwieg. Dann sah er Masut an, als wolle er ihn etwas fragen, doch traue er sich nicht. Betreten sah er zu Boden, zeichnete mit seinen Schuhen ein Muster in die fest getrampelte Erde, indem er die Oberfläche aufraute. „Hast du nicht das getan, was von dir verlangt wurde oder warum hat der Arzt dich so vor die Tür gesetzt?“
Masut konnte seinem Freund nicht ganz folgen, verstand nicht jedes Wort, aber den ungefähren Sinn der Frage.
„Die haben mir den Sack abgenommen. Den suchte ich. Schien dem Arzt nicht zu gefallen. Er wurde wütend.“
Johanns Gesicht erhellte sich und er ging zum Gebüsch zurück. Masut sah ihm sprachlos zu und runzelte die Stirn, als Johann kurz im Gebüsch verschwand und anschließend mit seinem Beutel, den er wie seinen Augapfel während der Überfahrt gehütet hatte, in der Hand zurück kam.
„Meinst du den?“ Ohne ein Wort zu sagen, riß Masut ihm den Beutel aus der Hand und sah sich den Inhalt an. Die Kette hing noch am Henkel des Kruges und der Wachspfrofen schien unversehrt. „Hättest dich wenigstens bedanken können“, sagte Johann vorwurfsvoll. Masut hob kurz den Kopf, sah sich dann wieder den Krug an. „Keine Angst, es ist alles noch so, wie es war. Es fehlt nichts und ich habe auch nicht angefaßt. Ich weiß nicht einmal, was du da drin hast. Nur das es etwas Schweres ist.“
„Später sage ich es dir, nicht heute. Ist eine lange Geschichte.“
„Was hat keine Geschichte?“, sagte Masuts Freund mehr zu sich selbst und wurde traurig. „Selbst ich habe in meinem jungen Leben schon eine Geschichte zu erzählen. Doch ich will sie nicht erzählen, nur vergessen.“ Er wollte nicht daran denken, den Teil seines jungen Lebens vergessen, doch er konnte es nicht. Selbst jetzt nicht, wo ein neuer Abschnitt begonnen hatte, mußte er noch daran denken. Es war ein Teil seines Lebens und würde es immer bleiben, auch wenn er versuchte zu vergessen.
„Irgendwann zeige ich dir, was ich hier habe. Jetzt ist es zu früh.“
Masuts Worte machten Johann neugierig und er versuchte zu erfahren, was es mit dem Gegenstand im Beutel auf sich hatte.
„Hast du den Familienschatz mitgenommen, um dich damit abzusetzen?“
„Nein!“, sagte Masut und Johann merkte an seiner ablehnenden Antwort, das er nicht weiter über das Thema sprechen wollte.
Die Tür des Hauses öffnete sich und bevor Johann weiter darüber nachdachte, wurde er von Masut zurück ins Gebüsch geworfen. Die scharfen Äste zerkratzten sein Gesicht und die Hände. Von seinem Versteck aus beobachtete er, wie die ersten Ägypter aus dem Haus traten.